Somms Memo #4: Extremismus in der Schweiz

image 2. Dezember 2021 um 11:00
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Warum das wichtig ist: Die politische Kultur der Schweiz feiert Kompromiss, Konkordanz und die Mitte. Gleichzeitig gehört es seit jeher zu den Mitteln der Opposition, auf die Pauke zu hauen. SP wie auch SVP sind damit gut gefahren. Was stimmt jetzt?
«Diktatur», «DDR», «Faschismus»: Die Massnahmengegner waren in den vergangenen Monaten nicht zimperlich, wenn es darum ging, die Coronapolitik des Bundesrates, insbesondere von Alain Berset zu verdammen. Manche Beobachter wiesen nach dem deutlichen Verdikt vom Sonntag – auch ich – darauf hin, dass darin wohl die Ursache der Niederlage zu suchen ist: Allzu extreme Wortmeldungen oder allzu pointierte Positionen vertragen sich mit der politischen Kultur dieses Landes schlecht. Wer es überzieht, wird an der Urne abgestraft.
Mit Blick auf den «schweizerischen Volkscharakter» hat schon der berühmte Schweizer Volkskundler Richard Weiss festgehalten:
«Extreme Handlungen und extreme Gesinnungen werden nicht geschätzt, am wenigsten extreme Worte.»
Weiss schrieb das 1946, es scheint noch heute gültig. Als zum Beispiel die SVP 2019 ein Plakat schuf, wo Würmer aus einem Apfel krochen, und die Partei daneben titelte: «Sollen Linke und Nette die Schweiz zerstören?», stiess das – wie so oft bei Kampagnen der SVP – auf allgemeine Entrüstung bei den Gegnern, insbesondere den Medien: Und offenbar lagen sie richtig. Prompt verlor die SVP in den folgenden Nationalratswahlen 3,8 Prozent, ein Rekordverlust.
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Auch das sogenannte Burka-Plakat, das die SVP 2017 verbreitet hatte, um die erleichterte Einbürgerung zu bekämpfen, erwies sich als Schuss in den Ofen: 60 Prozent nahmen die Vorlage an, ein Debakel der Gegner genauso wie am letzten Sonntag. Auch damals hatte das Burka-Plakat, das eine vollverschleierte Frau zeigte, für harte Kritik gesorgt.
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Was auf den ersten Blick einleuchtet, stimmt allerdings auf den zweiten nicht immer. Und darin liegt das Dilemma jeder Opposition in der Schweiz. Denn mit den gleichen verhüllten Frauen warben seinerzeit auch die Befürworter des Minarett-Verbotes oder erst vor kurzem eines Verhüllungsverbotes. Beide Volksinitiativen wurden angenommen – obwohl die Kampagne selbst im Vorfeld verurteilt worden war.
Wenn Richard Weiss also das «Masshalten zwischen den Extremen» als den «zentralen und allgemeinsten schweizerischen Charakterzug» betrachtet, dann bleiben zwei Dinge erklärungsbedürftig:
  • Warum stimmt der Souverän manchen Vorlagen trotzdem zu und warum werden Parteien gewählt, die sich extrem aufführen?
  • Warum setzt jede Opposition – ob links oder rechts – immer wieder auf Provokationen?
Das Zweite ergibt sich aus dem Ersten. Offenbar ist der schweizerische Souverän, der ohne Zweifel die Mitte so sehr liebt, nicht ganz konsequent. Oder er ist viel klüger als jede Opposition. Diese hat dann gemäss historischer Erfahrung immer dann eine Chance, wenn zwei Bedingungen gegeben sind:
  • Das Problem ist real – in den Augen einer Mehrheit.
  • Das Problem ist real – und wird dem Souverän zum ersten Mal zur Lösung unterbreitet.
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Streng genommen wären unter solchen Umständen Provokationen gar nicht nötig – gäbe es nicht die Medien, die strukturell konservativ sind, ganz gleich, ob sie sich links oder rechts verordnen. Da die Journalisten in ihrer Mehrheit zum Establishment gehören, verehren sie den Status quo und unterschätzen fast systematisch, was im Untergrund brennt. Nur Provokationen einer Opposition bringt sie dazu, überhaupt auf das neu erkannte oder zum ersten Mal bewirtschaftete Problem einzugehen.
Das ist der Grund, warum wir in der direkten Demokratie, wo die Mitte, die Massvollen, die Vernünftigen eigentlich immer gewinnen, gleichwohl feststellen, dass man manchmal extreme Positionen vertreten und extreme Worte wählen kann – und damit Erfolg hat.
Die Frage ist nur, wann. Empfindet die Mehrheit das Problem nicht als Problem, dann hilft keine Provokation. Darauf kommt es an.

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