Somms Memo #32 - Unsere Abhängigkeit von Putin

image 25. Januar 2022 um 11:00
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Warum das wichtig ist: Die grösste Volkswirtschaft Europas kann ohne russisches Gas nicht leben. Das bestimmt die deutsche Politik in der Ukraine-Krise. Wladimir Putins Pipelines zahlen sich aus.

In einem dramatischen offenen Brief hat Vitali Klitschko den Deutschen «Verrat» vorgeworfen. Der frühere Boxer und Weltmeister im Schwergewicht ist heute Bürgermeister von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Sein Appell erschien am Sonntag in der BILD-Zeitung, die mit einer Auflage von über einer Million nach wie vor zu den grössten Blättern des Kontinents zählt:
«Lange habe ich in Deutschland gelebt und ich habe immer noch viele Freunde dort. Deshalb tut es mir besonders weh zu sehen, wie Putin-Versteher in vielen Fragen die politische Kontrolle übernommen haben
Klitschko kritisiert insbesondere, dass die Bundesrepublik an der Nord Stream 2 festhält, einer neuen Gaspipeline, die direkt von Russland nach Deutschland führt.
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Tatsächlich stellt sie eines der stärksten Druckmittel dar, über das der Westen gegenüber dem landhungrigen russischen Präsidenten Putin verfügt. Nord Stream 2 steht kurz vor der Vollendung, noch ist die Pipeline allerdings nicht in Betrieb.
Klitschko stösst nach:
«Viele stellen sich die Frage: Wo steht die deutsche Regierung eigentlich? Auf der Seite der Freiheit und damit auf der Seite der Ukraine? Oder an der Seite des Aggressors?
Es braucht jetzt klare Signale aus dem wichtigsten Land Europas!»
Bisher hat die deutsche Regierung solche Unmissverständlichkeit grossräumig umfahren.
Die Grünen, eher Russland-kritisch, scheinen bereit zu sein, die Pipeline zu verstopfen, um so Putin zur Räson zu bringen. Dagegen tun sich die Sozialdemokraten erstaunlich schwer.
Das mag daran liegen, dass ihr früherer Kanzler Gerhard Schröder für Putin in Berlin weibelt. Er sitzt im Aufsichtsrat des russischen Energiekonzerns Rosneft und ist Vorsitzender des Aktionärsausschusses von Nord Stream, der Betreibergesellschaft beider Pipelines (Nord Stream 1 leitet bereits heute Gas in den Westen.)
Vor allem der neue Kanzler der SPD, Olaf Scholz, auf den es ankommt, scheint lieber die eigenen Wörter zu essen als sich klar zu äussern.
  • Noch im Dezember lehnte er es ab, die Pipeline als politischen Trumpf auszuspielen. Es handle sich um ein «privatwirtschaftliches Vorhaben», über das ganz «unpolitisch» verhandelt werden müsse.
  • Inzwischen, nicht zuletzt unter Druck einer aufgebrachten Öffentlichkeit, sagt er: «Klar ist, dass es hohe Kosten haben wird und alles zu diskutieren ist, wenn es zu einer militärischen Intervention [von Russland] gegen die Ukraine kommt.»
Auch das klingt nicht wirklich furchterregend. Scholz gehört in den Augen von Klitschko ohne Zweifel zu den Putin-Verstehern.
Zumal Deutschland gleichzeitig jeden Waffenexport in die Ukraine untersagt hat. Ebenso hat es Estland davon abgehalten, den bedrängten Ukrainern mit Waffen beizuspringen. Die betreffenden Waffen hatte Estland in Deutschland gekauft, mit der Auflage, dass die Deutschen über deren Verwendung mitentscheiden dürften. Das haben sie nun getan. Keine Waffen für Kiew. Geschweige denn, dass Deutschland je eigene Truppen aufbieten würden. Sterben für Kiew? Selten so gut gelacht.
Mit anderen Worten, es gibt kaum ein Land, vor dem sich Putin weniger in Acht nehmen muss als vor Deutschland, – ausgerechnet dem einzigen Land in Europa, das ihn richtig unter Druck setzen könnte. Dafür gibt es einen simplen Grund:
Follow the Gas. Follow the Oil.
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55,2 Prozent des Erdgases, das die Deutschen aus dem Ausland beziehen, kommt aus Russland, und 42 Prozent ihres Rohöls stammt aus dem gleichen Land. Damit hat sich Deutschland schon lange in Hand von Putin begeben.
Die deutsche Energiewende hat diese Abhängigkeit nicht vermindert. Im Gegenteil, sie hat sie vertieft – und wird sie noch weiter vertiefen.
  • Deutschland geht der Strom aus. Die erneuerbaren Energien, obwohl besinnungslos ausgebaut und in höchstem Masse subventioniert, sind nicht in der Lage, die Atomkraftwerke zu ersetzen.
  • Ende 2022 will Deutschland seine letzten AKWs abschalten. Man kann darin auch etwas anderes sehen: Ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk an Putin. Denn Gas spielt eine zusehends unverzichtbarere Rolle in der deutschen Stromproduktion.
  • Die Deutschen haben es versäumt, ihre Lieferanten zu diversifizieren. Insbesondere in den USA, einem der grössten Produzenten der Welt, kaufen sie kaum Gas ein.
Die Schweiz hat es übrigens nicht besser gemacht. Auch wir haben uns einer gefährlichen, nein, tödlichen Geschäftsbeziehung mit den Russen unterworfen. 47 Prozent unseres Erdgases erhalten wir aus Putins Reich.
Die Ukraine mag weit wegliegen, das russische Gas aber zischt in unseren Häusern.
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Dagegen haben die beiden einzigen europäischen Atommächte Frankreich und Grossbritannien offensichtlich darauf geachtet, wem sie Gas abkaufen. Beide sind russischen Quellen und Pipelines kaum ausgeliefert.
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Kein Wunder, wirkt deren Politik gegenüber Putin robuster. Den Worten folgen Taten. In den vergangenen Wochen hat etwa Grossbritannien 2000 Panzerabwehrraketen mit kurzer Reichweite in die Ukraine geliefert – damit ist es bisher das einzige grosse europäische Land, das die bedrohte Ukraine mit Waffen versorgt hat.
Ein Rätsel bleibt Joe Biden, der Präsident der USA. Noch liegt Nebel über Washington, und im unsichtbaren Hintergrund scheppert, knarrt und rumort es. Man hört alles:
  • kriegerisches Gebrüll
  • pazifistischer Flüsterton
Am Ende gilt wohl, was Winston Churchill, ein Brite mit amerikanischer Mutter, einmal über die Amerikaner gesagt hat:
«Die Amerikaner werden immer das Richtige tun – nachdem sie alle Alternativen ausgeschöpft haben.»

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag Markus Somm

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