Somms Memo #22 - Putin, der Historiker, Putin, der Imperialist
Warum das wichtig ist: Die Biden-Administration setzt auf Diplomatie, Putins Regierung auf Waffen. Biden denkt an sein politisches Überleben, Putin an die russische Vergangenheit.
Russland ist vielleicht eines der erstaunlichsten Reiche aller Zeiten: Seit Peter dem Grossen (1672-1725), also rund dreihundert Jahre lang, ist es eigentlich immer gewachsen, Jahrzehnt für Jahrzehnt um gigantische Flächen – bis 1991, als sich die Sowjetunion auflöste. Gewiss, es gab Rückschläge schon vorher, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, doch stets gelang es den Machthabern, selbst Territorien, die man einmal verloren hatte, von neuem zu besetzen. Russland dehnte sich aus – oder war gar nicht mehr. Es schien ein Naturgesetz.
Diese Lehren aus der Geschichte dürften auch Putin, den gegenwärtigen Präsidenten, beschäftigen. Der wohl talentierteste russische Politiker seit Stalin, mit allen dunklen Seiten, die auch Putin kennzeichnen, hat sich wohl nie damit abgefunden, dass sein Reich so viel kleiner geworden ist als jenes seiner Vorgänger. Wenn man sich in seine Lage versetzt, dann ist das durchaus nachvollziehbar: Nie hat Russland umfangreichere Territorium abgeben müssen als 1991. Es wirkte auf manche Russen wie eine Amputation, es blieb eine Wunde, die nie verheilt ist.
Deshalb fällt es nicht schwer, Putin strategisch zu lesen. Dass er all jene Länder in seinen Einflussbereich zurückgliedern will, die einst zur Sowjetunion angehört haben, ist unübersehbar:
- Er intervenierte in Abchasien, Südossetien, Transnistrien und Tschetschenien
- 2014 besetzte er die Krim
- er unterstützt pro-russische Separatisten in der östlichen Ukraine
- er arbeitet darauf hin, Weissrussland immer enger an Russland anzubinden
- Jetzt droht er mit einer Invasion der Ukraine
Dass Putin historisch denkt, hat er 2021 verraten, als er in einem längeren Artikel schrieb:
«Russen und Ukrainer sind eine Nation».
Ebenso warf er der aktuellen ukrainischen Regierung vor, sie verfolge ein «anti-russisches Projekt». Schliesslich unterstellt er der Nato, sich in die Ukraine ausbreiten zu wollen, um Russland zu bedrängen.
Von historischem Bewusstsein zeugen diese Bemerkungen, weil sie dem entsprechen, was die sogenannten Grossrussen seit Jahrhunderten vertreten hatten, wann immer sich in der Ukraine eine Bewegung formierte, die auf Eigenständigkeit pochte. Aus Sicht der meisten Russen gab es gar keine Ukraine. Sie behaupteten:
- Ukrainisch ist keine eigene Sprache, sondern bestenfalls ein slawischer Dialekt
- Es existiert demnach auch keine spezielle ukrainische Kultur, geschweige denn eine ukrainische Nation
- Jede Unabhängigkeitsbestrebung wird vom Ausland gesteuert, zuerst von den Österreichern, dann von den Deutschen, jetzt von den Amerikanern und der EU
Tatsächlich ist die Ukraine nur dank Hilfe von aussen erst entstanden. Als mitten im Ersten Weltkrieg, 1917, in Petrograd (St. Petersburg) die Revolution ausbrach, stärkte dies in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, zwar sogleich nationalistische Kräfte, die auf eine Unabhängigkeit des Landes drangen.
Noch herrschte aber Krieg – und grosse Teile des russischen Reiches waren von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzt worden, insbesondere Polen, das zu jener Zeit zu Russland gehörte, bald auch die Ukraine. Selbstverständlich unterstützten die Deutschen sowohl polnische als auch ukrainische Separatisten.
Alles, was ihren Feind Russland schwächte, schien erwünscht. Zumal auch das revolutionäre Russland sich nicht aus dem Krieg zurückziehen mochte. Darauf hatten die Deutschen gehofft, damit sie sich nur mehr mit England und Frankreich auseinandersetzen mussten, ihren mächtigen Kriegsgegnern im Westen. Am Zweifrontenkrieg in Ost und West drohte Deutschland zu zerbrechen.
Nicht zuletzt aus diesem Grund sorgten die Deutschen dafür, dass Lenin aus seinem Exil in der Schweiz nach Russland zurückkehren konnte. Dabei waren ihnen schweizerische Sozialdemokraten behilflich. Lenin war der einflussreichste, begabteste und linkste Vertreter der russischen Revolutionäre – und er war eine lebende, tickende Zeitbombe. Davon konnten die Deutschen ausgehen. Sie setzten ihn in Zürich in einen Eisenbahnwagen, sie organisierten die Reise, sie garantierten seine Sicherheit. Ein befreundeter Schweizer Sozialdemokrat, Fritz Platten, begleitete ihn. Später wurde Platten Kommunist. Ohne Schweizer keine Oktoberrevolution – das stimmt, wenn auch zugespitzt, leider wohl auch.
Kaum war Lenin in Petrograd angekommen, erfüllte er alle deutschen Erwartungen. Er und seine Bolschewiki ergriffen die Macht – und um diese zu konsolidieren, waren sie zum Friedensschluss mit den Deutschen bereit. Um jeden Preis. Die Deutschen nutzten ihren Vorteil kaltblütig aus. Sie nötigten den Russen im März 1918 einen sehr einseitigen Friedensvertrag auf, den Vertrag von Brest-Litowsk. Russland hatte riesige Territorien abzutreten – nicht an Deutschland oder Österreich-Ungarn, sondern es musste hinnehmen, dass sich neue unabhängige Staaten bildeten:
- Polen
- die baltischen Staaten
- Finnland
- und die Ukraine
Erst nachdem die Alliierten (mithilfe der USA) Deutschland im November 1918 besiegt hatten und diesem ihrerseits in Versailles bei Paris einen harten Friedensvertrag auferlegt hatten, gelang es den russischen Kommunisten, die Ukraine zurückzuerobern. Die Ukraine blieb formell zwar eine eigenständige «sozialistische Sowjetrepublik», wie so viele Teile des neuen kommunistischen Russlands, faktisch gehörte sie aber wieder zu Russland – bis 1991. Dann wurde in Kiew erneut die Unabhängigkeit ausgerufen. Damit tut sich Moskau bis heute schwer.
Trotz der Rückeroberung der Ukraine hatte die Sowjetunion 1918 vorerst sehr viel Territorium eingebüsst. Ein Krieg später, 1945, brachte es Stalin allerdings zustande, den überwiegenden Teil der Verluste wettzumachen:
- schon 1940 hatte er das Baltikum besetzt (mit Rückendeckung von Hitler)
- er griff 1940 Finnland an, scheiterte allerdings
- er annektierte das östliche Polen
- er dehnte die (sowjetische) Ukraine nach Westen aus
Wenn man die Grenzen betrachtet, die der Vertrag Brest-Litowsk den Russen aufgezwungen hat, dann gleichen sie durchaus den Grenzen des heutigen Russlands. Putin weiss das nur zu gut. Es dürfte an ihm nagen.
Putin, der Realpolitiker, ist eben auch ein Historiker. Stalin, der Nachfolger von Lenin, setzte alles daran, die Folgen von Brest-Litowsk zu korrigieren, Putin – so macht es den Anschein – will Stalin in nichts nachstehen. Ihm geht es darum, die Grenzen von 1991 zu berichtigen.
Wenn der Westen sich nicht vorsieht, dürfte er das auch fertigbringen.
Ich wünsche Ihnen einen trotzdem gelassenen Tag
Markus Somm