Somms Memo #20

image 7. Januar 2022 um 11:00
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Memo an
Bundespräsident Ignazio Cassis
Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) Bundeshaus West 3003 Bern
(vorab per Email)
Zürich, 7. Januar 2022
Sehr geehrter Herr Bundespräsident
In diesem Memo möchte ich Ihnen einen Antrag für das weitere Vorgehen gegenüber der EU unterbreiten. Mit bestem Dank für Ihre Kenntnisnahme und mit freundlichen Grüssen
Markus Somm

Antrag
1. Orientierung
1.1. Mein Auftrag
Vorschläge zu entwickeln, wie die bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union, unserem wichtigsten Handelspartner, bewahrt und allenfalls vertieft werden können. Dabei sind die Unabhängigkeit und die Freiheit der Schweizerischen Eidgenossenschaft vollumfänglich sicherzustellen.
1.2. Worum geht es?
Im Mai 2021 hat der Bundesrat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU abgebrochen. Seither herrscht Stillstand, wenn nicht Eiszeit.Ein Treffen mit dem Vizepräsidenten der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, das Sie, Herr Bundespräsident, im November 2021 in Brüssel absolviert haben, verlief ergebnislos.
2. Antrag
Unser Vorgehen hat in zwei Schritten zu erfolgen:
  • Intern: Analyse des Status quo. Wo stehen wir, was wollen wir?
  • Extern: Wir geben der EU unsere Positionen bekannt und legen Forderungen und Angebote vor – im Wissen, zu welchen Konzessionen und Sanktionen wir bereit sind
Bevor Sie von neuem nach Brüssel fahren, ist es dringend erforderlich, dass wir uns im Klaren sind, was wir uns von der EU versprechen. Dabei dürfen wir uns keinesfalls unter einen künstlichen Zeitdruck setzen lassen, wie dies Šefčovič undiplomatisch versucht hat.
Verständlicherweise ist in der Öffentlichkeit (und in Brüssel) der Eindruck aufgekommen, der Bundesrat (oder besser: das EDA) wüsste nicht, was er wolle. Das ist keine gute Verhandlungsposition – das ist gar keine.
2.1. Analyse des Status quo
Die EU ist der bedeutendste Handelspartner der Schweiz. Dabei ragt unter den Mitgliedstaaten Deutschland mit grossem Abstand heraus. Unserem zweitwichtigsten Partner in der EU, Italien, liefern wir drei Mal weniger Exporte. Verhandlungen mit der EU sind eigentlich Verhandlungen mit Deutschland.
Daher gilt: An geregelten Beziehungen mit der EU kommen wir nicht vorbei. Ein möglichst guter Zugang zum Binnenmarkt ist unabdingbar.
Aber: die USAsind für uns als Handelspartner fast genauso bedeutsam wie Deutschland, ebenso ist unser Handelsvolumen mit Nicht-EU-Staaten in den vergangenen Jahren ständig gewachsen (vor allem mit China), – während es mit der EU stagniert hat.
  • Es gibt eine wirtschaftliche Existenz jenseits der EU
  • Wir dürfen uns keinesfalls auf die EU beschränken
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Überdies ist zu beachten: Die Schweiz ist für die EU keine Quantité négligeable. Im Gegenteil.
Wir sind der drittgrösste Handelspartner der EU (2017, vor dem Brexit) – nach den USA (330 Millionen Einwohner) und China (1,4 Milliarden). Die Schweiz zählte 2021 8,6 Millionen Einwohner.
  • Die Schweiz ist auf die EU angewiesen
  • die EU ist indes auch auf die Schweiz angewiesen
  • die EU exportiert mehr in die Schweiz als wir in die EU. Es besteht aus unserer Perspektive ein Handelsdefizit. Die EU zieht mehr Nutzen aus den bilateralen Handelsbeziehungen als die Schweiz
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2.2. Was wollen wir?
Diese Frage ist zuerst intern zu klären, dann extern zu vermitteln. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem Grundsätzlichen und dem Konkreten.
Grundsätzlich:
  • Die Schweiz will der EU nicht beitreten
  • Die Schweiz will nicht Mitglied des Binnenmarktes sein
Während der Bundesrat das erste Prinzip inzwischen deutlich kommuniziert hat, ist das zweite nach wie vor umstritten oder unklar – obwohl selbst das Parlament dies seinerzeit so festgehalten hat.
Vor allem in Brüssel dürfte man sich dessen nicht bewusst sein.
Auf dieses Prinzip kommt es an. Nur wenn wir darauf verzichten, am Binnenmarkt teilzunehmen, sind wir imstande, uns aus dem Dilemmazu befreien, das sowohl EWR als auch Rahmenabkommen zum Scheitern verurteilt hatte (siehe Memo vom Dienstag, 4. Januar 2022).
Eine sogenannte Dynamisierung der bilateralen Abkommen, wo die EU einseitig die Regeln ändern kann, ist auf lange Sicht in der Schweiz nicht mehrheitsfähig.
Wenn wir – zu Recht – darauf bestehen, unsere eigenen Gesetze selber demokratisch zu beschliessen, dann können wir nie und nimmer Teil des Binnenmarktes sein.
Das heisst nicht: Dass wir uns keinen möglichst erleichterten Zugang zum Binnenmarkt der EU erwünschen – so wie wir uns einen solchen zum amerikanischen oder chinesischen Binnenmarkt erhoffen.
Allerdings wollen wir keinen «privilegierten» Zutritt mehr, wenn das erfordert, dass wir uns als Mitglied daran beteiligen.
Diese Lebenslüge – sich in der EU und doch ausserhalb der EU aufzuhalten – gilt es ein- für einmal aufzugeben. Zuerst im eigenen Land, dann gegenüber der EU.
Konkret:
Um sich in die Lage zu versetzen, mit der EU auf Augenhöhe zu verhandeln, ist es nötig, dass die Schweiz vorher ihre zentralen Stärken und Schwächengegenüber der EU eruiert. Zu diesem Zweck beauftragt der Bundesrat alle Departemente, je zwei bedeutende Aktivposten und je zwei eindeutige Abhängigkeiten von der EU vorzulegen.
  • Wo bieten wir der EU etwas, worauf sie ungern verzichtet? Oder: wo können wir ihr das Leben schwer machen?
  • Wo hängen wir vom Wohlwollen der EU ab? Oder: Wo ist sie imstande uns wehzutun?
Es muss ein Geben und ein Nehmen sein – wie das üblich ist bei zwischenstaatlichen Verhandlungen. Im Wesentlichen könnte das bedeuten:
  • Wir streben ein neues Freihandelsabkommen an nach dem Vorbild des Abkommens, das die EU unlängst mit Kanada abgeschlossen hat. Denn wie Kanada sind wir ein Drittstaat – das soll die EU wissen, damit müssen wir uns abfinden.
  • Wir nehmen Verhandlungen über ein Stromabkommen auf – ohne aber zuzulassen, dass die EU unilateral, mit Hinweis auf die Erfordernisse ihres Binnenmarktes, den Inhalt laufend nach ihrem Gutdünken anpasst. Keine Dynamisierung!
Bei solchen Verhandlungen gilt das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche.
Zum Beispiel:
Zuckerbrot: Wir kürzen die Anmeldefrist für ausländische Unternehmen, wenn sie in der Schweiz Aufträge ausführen möchten.
Peitsche: Wir erhöhen von uns aus die Durchfahrtkosten durch den Gotthard für den LKW-Verkehr. Damit halten wir uns zwar nicht an die Verträge mit der EU – doch diese schert sich schon lange nicht mehr um ihre Vertragstreue, wenn es etwa um die schweizerische Medizinaltechnik oder die Börsenaquivalenz geht.
2.3. Fazit
Sobald wir diese Hausaufgaben erledigt haben, ist es Zeit, der EU unsere Prinzipien (kein Beitritt, keine Teilnahme am Binnenmarkt) zu kommunizieren, sowie unsere Forderungen und Angebote bekannt zu machen. Erst dann. Ob das in drei Monaten – oder in drei Jahren ist: Das entscheidet der Bundesrat. Nicht die EU-Kommission.
Diese Variante wird hiermit beantragt.
3. Varianten
1) Die Schweiz arbeitet auf ein neues Rahmenabkommen hin – wo jene Bereiche, in denen die Schweiz keine Dynamisierung akzeptiert, festgelegt werden (wie etwa die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit).
Vorteil:Kommt der EU entgegen, die auf ein Rahmenabkommen pocht. Bewahrt die Schweiz vor allzu vielen Überraschungen. Bricht Widerstand der Gewerkschaften, die den einheimischen Lohnschutz à tout prix nicht aufgeben möchten.
Nachteil: Schweiz gerät erneut ins Dilemma: Dass sie Souveränität abgibt – in Bereichen, die sie heute möglicherweise noch gar nicht kennt. Die Entwicklung des Binnenmarktrechtes ist unberechenbar. Untergräbt Stellung des Parlaments und der direkten Demokratie.
Wird nicht beantragt.
2) Die Schweiz offeriert ständig wiederkehrende Kohäsionszahlungen an die EU, um am Binnenmarkt teilzunehmen, wie es dem Wunsch der EU entspricht. Im Gegenzug erwartet die Schweiz ein Stromabkommen, wobei sie hier eine Dynamisierung allenfalls hinnehmen würde.
Vorteil:Deblockierung der Verhandlungen. Stromabkommen ist ein dringendes Anliegen der hiesigen Stromwirtschaft. Schweiz bleibt der privilegierte Zugang zu Binnenmarkt erhalten.
Nachteil:Schweiz ist Mitglied des Binnenmarktes – und lagert damit ihre eigene Gesetzgebung in wesentlichen Fragen an die EU aus. Das Dilemma, das uns seit dreissig Jahren zerreisst, besteht fort. Man kann das Fell des Bären nicht waschen, ohne dass es nass wird.
Wird nicht beantragt.
3) Die Schweiz tut nichts. Rein gar nichts.
Vorteil: Die Schweiz verwickelt sich nicht in Verhandlungen, aus denen sie nicht mehr heil herauskommt. Zumal unsere Diplomaten nach wie vor von einer weitergehenden Integration träumen.
Nachteil: Die Schweiz gibt jede Initiative auf – und macht sich von den Prioritäten der EU abhängig. Die bekannte Mikado-Regel gilt hier nicht: Wer sich zuerst bewegt, ist tot – vielmehr beherrscht die Verhandlungen, wer zuerst sein Feld absteckt.
Wird nicht beantragt.

7.1.2021, mso

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