Somms Memo #10 - Erobert Putin die Ukraine?

image 10. Dezember 2021 um 10:54
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Warum das wichtig ist: Krieg ist denkbar. Wenn Putin die Ukraine erobert, ohne dass der Westen dagegen einschreitet, wäre das auch eine Niederlage der Nato – mit ungeheuren Implikationen für Europa. Wendet sich Amerika ab?
Am Dienstag versuchte US-Präsident Joe Biden seinen russischen Gegenpart, Wladimir Putin, zur Vernunft zu bringen. Er drohte Sanktionen an, sollte Putin in die Ukraine eindringen, doch bei näherem Hinsehen blieb alles recht diffus: von «wirtschaftlichen und anderen Massnahmen» war die Rede, wenig Konkretes, wenig Beeindruckendes aus Sicht von Putin. Das dürfte ihn kaum abschrecken. Doch will Putin so weit gehen und einen Krieg wagen?

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Drei Dinge sprechen dafür:
  • Joe Biden. Der überstürzte und dilettantisch umgesetzte Abzug aus Afghanistan hat Bidens Reputation ruiniert. Ob in Peking, Teheran oder Moskau: Man hält den Mann im Weissen Haus für schwach.
  • Timing. Biden ist angeschlagen, doch von den Europäern hat Putin noch weniger zu befürchten. Insbesondere Deutschland verfügt kaum mehr über eine Armee. Die Regierung Scholz ist frisch im Amt, und die neue Verteidigungsministerin Lambrecht hat sich noch nie mit Sicherheitspolitik befasst. Sie gilt als Greenhorn.
  • Putin hat 2014 schon die ukrainische Krim besetzt – und der Westen liess es bei Protesten und ein paar Sanktionen bewenden. Wie zahnlos sie waren, gab US-Sicherheitsberater Jake Sullivan unfreiwillig zu, wenn er jetzt Putin drohte: «Wir würden heute weitergehen als 2014!»

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Putin rechnet: Der Demokrat Joe Biden, vor dem er keine Angst hat, dürfte noch höchstens drei Jahre lang sein Amt ausüben – bis wohl wieder ein Republikaner im Weissen Haus sitzt. Entweder Donald Trump (unwahrscheinlich, aber möglich) oder ein anderer Hardliner aus der Trump’schen Schule: Nikki Haley, Mike Pompeo oder Ron DeSantis.
Mit anderen Worten, Putin bleiben drei Jahre, um eines seiner wichtigsten aussenpolitischen Ziele zu verwirklichen: Die territoriale Wiederherstellung der Sowjetunion, so gut es geht. Er befindet sich damit in einer langen, grossrussischen Tradition.
  • Schon das Russland der Zaren setzte immer auf territoriale Expansion. Andere Ziele wie mehr Wirtschaftswachstum, mehr Rechte für die Untertanen, mehr Bildung wurden kaum je verfolgt, – oder wenn, dann mit wenig Nachdruck. Das Imperiale überwog. So wurde das alte Russland eines der grössten Reiche aller Zeiten. Nur das British Empire und das Reich von Dschingis Khan waren umfangreicher.
  • Als die Kommunisten 1917 die Macht ergriffen, verlor die neue Sowjetunion bedeutende Territorien: Finnland, das Baltikum, Moldawien, Polen. Man vergass das nie. Stalin setzte ab 1939 alles daran, diese Gebiete zurückzuholen. Zuerst als Partner von Hitler, dann als dessen Gegner. 1945 war die Sowjetunion fast wieder so gross wie das zaristische Russland (22,4 Mio. km2 versus 22,8 Mio. km2).
Putin ist sicher realistischer. Die ganze Sowjetunion kann er nie mehr wiederaufstehen lassen. Das räumte er selbst ein:  «Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben möchte, hat kein Hirn».
Es dürfte ihm reichen, wenn es gelingt, Weissrussland und Teile der Ukraine, besonders die russischsprachigen im Osten des Landes in seinen Machtbereich einzugliedern. Vielleicht stehen auch die baltischen Länder auf der Einkaufsliste.
Deshalb rasselt er mit dem Säbel. Deshalb ist jederzeit mit Krieg zu rechnen.

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Wie kann der Westen das abwenden? Ein Memo für Joe Biden:
  • Nordstream 2. Nichts hat die Russen in Europa mächtiger gemacht als diese Pipeline, die Westeuropa direkt mit russischem Gas versorgen soll – ohne auf die Durchleitung durch die Ukraine oder Polen angewiesen zu sein. Nordstream 2 steht kurz vor der Inbetriebnahme. Trump hatte versucht, Angela Merkel davon abzubringen und setzte sie unter Druck – Biden gab nach. Jetzt wäre es an der Zeit, die Pipeline endgültig zu verstopfen.
  • Ukraine stärken. Nachdem die Administration Obama die Ukraine nie mit Waffen versorgen wollte, lieferte die Regierung Trump diese. Biden drosselte die Aufrüstung von neuem. Der Westen sollte der Ukraine schleunigst mehr Waffen und Militärberater zur Verfügung stellen.
  • Europa muss aufrüsten. Im Kalten Krieg stellte die Bundeswehr die stärkste Armee in Westeuropa dar, seither wurde sie regelrecht zertrümmert. Wer die militärischen Fähigkeiten der Deutschen kennt, weiss, dass die Bundeswehr innert Kürze wieder zu einer Truppe aufgebaut werden könnte, die Putin den Schlaf raubt. Das ist dringender denn je. Natürlich steht im neuen Koalitionsvertrag der rot-grün-gelben Regierung nichts dergleichen. Schweden hat bereits aufgerüstet. Ein Vorbild für alle – auch für die Schweiz.
Seit 1989 sind die Europäer (und zum Teil sogar die Amerikaner) dem Irrglauben verfallen, man könnte das Böse mit guten Worten bekämpfen. Dialog, Workshops, Theaterspielen mit ehemaligen Feinden: Man meinte, den Krieg wegtherapieren zu können. Eine schöne Illusion – über die die Diktatoren unserer Zeit herzlich lachen.
Vielmehr bleibt richtig, was die Römer schon wussten:
«Si vis pacem para bellum».
Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Gewiss, die Römer waren Kriegsgurgeln. Gleichzeitig gab es kein Reich, wo so lange Frieden herrschte, wie im Imperium Romanum.
Es ist dies die einzige Sprache, die Putin versteht – selbst wenn man es ihm nicht auf Lateinisch sagt.
Ich wünsche Ihnen ein nachdenkliches, hoffentlich friedliches Wochenende.
Markus Somm

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