Somms Memo # 9 - Ignazio Cassis

image 9. Dezember 2021 um 11:14
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Warum das wichtig ist: Cassis steht unter Druck. Das Bundespräsidium ist seine Chance, sich in besserem Licht zu zeigen. Welche Herausforderungen muss der Tessiner meistern?
Seit Ignazio Cassis im Bundesrat sitzt, sieht er sich mit scharfem Gegenwind konfrontiert. Zum einen liegt das daran, dass er manchmal ungeschickt agiert – wie etwa vor zwei Wochen, als er nach Brüssel fuhr – ohne in der Lage zu sein, der EU etwas Konkretes anzubieten. Mit keinem Plan reiste er an – mit einem Marschbefehl der EU kehrte er zurück. Es hagelte Kritik.
Zum anderen weiss die Linke, dass Cassis für sie gefährlich ist: Der Freisinnige wurde zu einem wesentlichen Teil von der SVP gewählt – weswegen er sich dieser Partei wohl etwas mehr verpflichtet fühlt als anderen Parteien, abgesehen von der eigenen FDP. Vor allen Dingen, das steht fest, ist er nicht von der Linken abhängig. Das behagt der SP selten. Hinzu kommt, dass sich Cassis von Beginn weg mit der sogenannten Entwicklungsindustrie angelegt hat, als er eine Überprüfung der DEZA anordnete und durchblicken liess, dass er die Subventionen des Bundes für so viele NGOs als diskutabel einschätzt. Das vergassen ihm die NGOs nie – und da diese auf der linken Seite längst den Takt vorgeben, geriet Cassis bei der ganzen Linken in Verruf.

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Aus diesem Grund dürften manche Sozialdemokraten und Grüne dem Tessiner gestern die Stimme verweigert haben – 36 Stimmen waren ungültig oder leer. Deshalb erzielte er ein miserables Ergebnis. Dass FDP und SVP nachher wohl Alain Berset ebenso abstraften, um sich zu revanchieren, machte die Sache für Cassis nicht besser. Er ist angeschlagen.
Denn ein Naturgesetz in Bern lautet: Wer es sich mit der Linken verdirbt, erhält auch eine schlechte Presse. Zu viele Journalisten fühlen sich der Linken verbunden. Daher wird über bürgerliche Bundesräte systematisch kritischer berichtet. Hinzu kommt, dass Cassis mit seinem Kurs die eigenen Beamten im EDA gegen sich aufgebracht hat – entweder weil sie in der DEZA tätig sind oder weil sie Cassis dafür verantwortlich machen, dass er das Rahmenabkommen nicht ins Ziel gebracht hat. Das Rahmenabkommen genoss bei vielen Diplomaten hohe Zustimmung. Die verschnupften Beamten rächen sich mit Indiskretionen in den Medien.
Was tun? In der Schweiz kommt dem Bundespräsidenten kaum Macht zu. Dennoch kann Cassis in diesem neuen Amt zeigen, wozu er imstande ist. So unfähig, so unglücklich, wie ihn die Medien zuweilen darstellen, ist er nicht:
  • Corona. Ignazio Cassis ist Arzt. Als Bundespräsident sollte er das Dossier an sich ziehen. 2022 wird es darum gehen, aus dem ständigen Krisenmodus herauszukommen. Ein liberaler, wirtschaftsfreundlicher Ansatz ist gefragt. Cassis ist auch ein Freisinniger.
  • Das Tessin. Der Südkanton ist ein Unikum in der Schweiz. Er tickt anders, heute: euro-skeptischer, anti-elitärer, auch populistischer. Wer, wenn nicht ein Tessiner wie Cassis kann der übrigen Schweiz erklären, wie es dazu gekommen ist – und dass wir darauf Rücksicht zu nehmen haben. Die Schweiz braucht das Tessin.
  • Europa. Indem Cassis den Text des Rahmenabkommens bekannt gemacht hatte, ermöglichte er erst die Debatte – die dazu führte, dass das Abkommen kassiert wurde. Es war nicht mehrheitsfähig. Jetzt muss Cassis zeigen, dass er eine Lösung mit der EU findet. Daran kann er scheitern – wie so viele seiner Vorgänger – oder aber: er kann sich damit unsterblich machen.

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Jonas Furrer erster schweizerischer Bundespräsident 1848 (Aus Winterthur).

In den Anfängen des Bundesstaates von 1848, so schreibt der Historiker Urs Altermatt in seinem monumentalen «Bundesratslexikon», war die Bundespräsidentenwahl noch kompetitiv. Man wählte nicht einfach, wer an der Reihe war, wie das heute der Fall ist, sondern man krönte, wer sich bewährt hatte. So wurden die Stars in der Regierung wiederholt zum Bundespräsidenten bestimmt, während die Stillen und Unglücklichen im Gremium damit rechnen mussten, dass sie nie zum Zug kamen. Wenn jemand wie der Zürcher Jonas Furrer die erste Regierung dominierte, dann äusserte sich das auch darin, dass er fast ständig als Bundespräsident (oder Vizepräsident) amtierte: vier Mal wurde er gewählt, derweil andere ständig leer ausgingen. Gerade die Tessiner hatten lange kaum eine Chance. In jenen Jahren nicht zuletzt darum, weil sie zu wenig Deutsch verstanden.
Ignazio Cassis spricht drei Landessprachen perfekt (was das Rätoromanische anbelangt, fehlen mir die Angaben). Daran kann es also nicht liegen, sollte er als Bundespräsident keinen Erfolg erringen. Es ist eine gute Gelegenheit. Es ist die Stunde des Staatsmannes. Sollte Ignazio Cassis noch keiner sein – und dafür sprechen einige Indizien – dann kann er es spätestens jetzt werden.
Herr Bundespräsident Cassis: Carpe diem! Um auch das Lateinische, das er sicher beherrscht, wieder in Ehren zu bringen.
Ich wünsche Ihnen einen staatsmännischen Tag.
Markus Somm

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