Somms Memo: Ist die Schweiz noch neutral? Lehren aus der Geschichte
Schlacht bei Fontenoy 1745 im Österreichischen Erbfolgekrieg.
Die Fakten: Die Schweiz trägt die Sanktionen gegen Russland mit. Seither ist ein Glaubenskrieg um die Neutralität ausgebrochen.
Warum das wichtig ist: Die Schweiz ist schon viel länger neutral, als das den meisten bewusst ist. Was aber «neutral» in der Praxis bedeutete, hat sich immer wieder verändert.
Der nach wie vor einflussreichste Politiker der SVP, Christoph Blocher, will mit einer Volksinitiative die «integrale Neutralität» der Schweiz wiederherstellen. Gemäss Blocher hat die Schweiz diese aufgegeben, indem sie
- die Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland übernommen hat,
- womit sie sich an einem «Wirtschaftskrieg» beteiligt. Sie ist Kriegspartei
In der Sache hat Blocher natürlich Recht – und die Versuche des Bundesrates diese Gummifizierung der Neutralität schönzureden, machen die Sache nur schlimmer. Die Regierung sollte besser nichts sagen
Denn so gut wie alle, insbesondere im Ausland, gehen davon aus, dass die Schweiz Partei genommen hat – und das Land wird ja dafür ausdrücklich gelobt, so zuletzt vom britischen Premierminister Boris Johnson, als unser Bundespräsident Ignazio Cassis ihn letzte Woche in London besucht hatte.
Wenn es dem Bundesrat darum gegangen wäre, der Welt klarzumachen, dass wir trotzdem immer noch neutral sind, dann ist ihm das offensichtlich suboptimal geglückt.
Gleichzeitig überschätzt Blocher den Spielraum der schweizerischen Regierung, sowohl innenpolitisch als auch aussenpolitisch.
- Eine grosse Mehrheit der Bürger hierzulande hätte nicht verstanden, wenn die Schweiz sich der Sanktionen enthalten hätte. Zu grauenhaft sind die Bilder aus der Ukraine, zu unverzeihlich der Überfall Putins. Der Bundesrat wurde nicht – wie Blocher wohl vermutet – aus Eitelkeit schwach, sondern, weil er sich vor dem Volk fürchtete. Was keine schlechte Angst ist.
- Realpolitisch war der Druck, insbesondere der Amerikaner, übermächtig. Selbst Israel, das zunächst neutral blieb, hat diese Haltung inzwischen erheblich relativiert.
Putin macht es allen schwer, unbeteiligt zu tun. Wenn es ein Politiker je fertiggebracht hat, mehr Freunde zu verlieren, als Feinde zu gewinnen, dann Putin.
Kurz, die Schweiz hatte keine Wahl. Wer aber keine Wahl hat, tut gut daran, die anderen nicht immer daran zu erinnern. Augen zu und durch – wäre der richtige Ansatz gewesen.
Stattdessen brach in Bern das Zeitalter der neutralen Geschwätzigkeit an. Zu viele Politiker äussern sich zur Neutralität (auch Bundesräte), zu viel wird lamentiert und ausgelegt, zu viel hinterfragt oder weiterentwickelt.
Dabei zeigt die Geschichte: Die Schweizer hüteten sich lange davor, die Neutralität genau zu definieren.
Der Basler Historiker Edgar Bonjour, der beste Kenner der Materie, schrieb:
«Wohl sprachen die Tagsatzungsherren im siebzehnten Jahrhundert etwa davon, die ‘hergebrachte Neutralität’ und ‘Impartialität’ sei eine ‘Grundveste' der eidgenössischen 'Republic', oder ausländische Gesandte nannten die ‘Neutralität der löblichen Eidgenossenschaft eine feste Grund-Säule ihres Ruhe-Stands’; nähere Umschreibungen aber wurden klüglich vermieden.»
Man liess vieles offen, manches wandelte sich von Jahrhundert zu Jahrhundert.
Gewiss, ihr Kern war immer eindeutig – und wurde, das sei allen neumodischen Kritikern unserer Neutralität ins Stammbuch geschrieben – auch stets eingehalten.
- Die Schweiz hat sich seit dem 16. Jahrhundert, seit rund 500 Jahren, nie mehr als Kriegspartei an einem Krieg beteiligt
- Nie mehr – es sei denn, man wurde dazu gezwungen, weil einem Napoleon erobert hatte
- Das war die einzige Ausnahme, eine unfreiwillige Ausnahme
Deshalb gibt es kein anderes Land auf dieser Welt, das seit so langer Zeit als neutral gilt. Unser Ruf ist wohl verdient, denn neutral zu sein, war schon immer kompliziert:
- Aus moralischen Gründen, wenn die eine Kriegspartei eine Monsterpartei war (wie im Zweiten Weltkrieg)
- Aus praktischen Gründen, weil sich nicht immer alle einig waren, was darunter alles zu verstehen ist
Denn die Auffassung von Neutralität änderte sich im Detail auch:
- Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert stiess sich keine europäische Macht daran, dass die Schweizer als Söldner praktisch auf allen Schlachtfeldern des Kontinents tätig waren. Das galt nie als Bruch der Neutralität. Heute sieht man das anders
- Um sich abzusichern, achtete die Tagsatzung der alten Eidgenossenschaft jedoch stets darauf, dass wir mit verschiedenen Ländern Soldverträge abschlossen. Also nicht bloss mit Frankreich, sondern auch mit Spanien, Holland, ja sogar mit Österreich. Ausserdem war es diesen Ländern nicht erlaubt, die Schweizer Söldner zum Angriff einzusetzen, sondern nur zur Verteidigung. Insbesondere der französische König hielt sich nicht immer daran. Die Tagsatzung protestierte, in der Regel mit Erfolg
- In der gleichen Zeit war es aber einem Neutralen untersagt, eine Kriegspartei mit Proviant, Waffen oder anderem Material zu versorgen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht dieses Verbot nicht mehr – sofern private Unternehmen als Lieferanten auftreten. Im aktuell gültigen Neutralitätsrecht dürfte ein neutrales Land Waffen ins Kriegsgebiet schicken – allerdings muss es beide Kontrahenten gleich behandeln
Was sich aber immer gleich blieb: die Schweiz wurde oft als Egoist beschimpft, als Kriegsgewinnler kritisiert, als Feigling verspottet. Wer Krieg führte, hasste den Neutralen, der nicht Partei nahm. Und er liebte ihn trotzdem, solange er wusste, dass der Neutrale sich auch der Gegenseite entzog.
Wenn auch die Schweizer damit auf eine heroische Geschichte verzichteten, auf Kriege und Eroberungen, so fuhren sie damit doch besser als die meisten übrigen Europäer.
Lieber ruhmlos glücklich – als Ruhm ohne Glück.
Schweizer Kuh. Bild: Keystone-SDA
Oder wie es Johann Caspar Lavater schon im Jahr 1788 ausdrückte – er galt seinerzeit als einer der grossen Pfarrer und Philosophen der Schweiz:
«Wenn Europens Völker kriegen,
Singen wir von alten Siegen,
Sehen im Gefühl der Ruh
Ihren Blutgefechten zu;
Weiden selbsterzogene Herden,
Pflügen sicher eigne Erden,
Essen froh, nach altem Schrot,
Käse, Milch und Roggenbrot»
Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Tag
Markus Somm