Somms Memo: Die tödliche Bilanz von Tschernobyl

image 8. Juni 2022 um 10:03
Atomkraftwerk von Tschernobyl nach dem Unfall im Jahr 1986.
Atomkraftwerk von Tschernobyl nach dem Unfall im Jahr 1986.
Die Fakten: Atomkraft ist die sicherste Art, zuverlässig Strom herzustellen. Bei kaum einer Form der Energieerzeugung sind weniger Menschen gestorben.

Warum das wichtig ist: Dichtung und Wahrheit liegen nirgendwo weiter auseinander als bei der Atomkraft. Es ist Zeit, eine empirisch unbegründete Angst zu überwinden.


Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk von Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion zu einer Explosion, was kurz darauf zu einer Kernschmelze im Reaktor führte. Unmengen von Radioaktivität wurden freigesetzt, die unmittelbare Umgebung verstrahlt, und durch den Wind wurden radioaktive Stoffe von der Ukraine bis nach Westeuropa getragen. Tschernobyl liegt heute in der Ukraine.
  • Tschernobyl, ein Ort, den vorher niemand im Westen gekannt hatte, galt für Jahre als der GAU schlechthin, der «grösste anzunehmende Unfall».
  • Nichts schien in diesen Zeiten der atomaren Hochrüstung während des Kalten Krieges schlimmer.
  • Denn Atomkraftwerke und Atombomben reimten sich.

Als sich 2011 in Fukushima in Japan infolge eines Tsunami abermals ein schwerer Unfall in einem AKW zutrug, schien vielen Menschen klar: Atomkraft ist des Teufels, und manch ein Politiker, der auf die Menschen zu hören meinte, leitete den Ausstieg aus der Atomkraft ein:
  • So in Deutschland, Südkorea oder Taiwan
  • So auch in der Schweiz

Seither gilt als reaktionär oder gar gefährlich, wer Atomkraft noch für eine sinnvolle Form der Stromerzeugung hält. Selbst die Sorgen, die uns der Klimawandel bereitet, haben daran wenig geändert. Dass AKWs kaum CO2 ausstossen: Es kümmert niemanden. Atomkraft ist ein Tabu:
  • Kaum ein Politiker der bürgerlichen Mitte traut sich, offen für neue Kernkraftwerke zu werben. Nur die SVP tut das – eine Partei, die man in gewissen Kreisen etwa für so salonfähig hält wie einen rehabilitierten Gangster
  • Auch die Wirtschaft, insbesondere Economiesuisse, der Spitzenverband, wird nervös, wenn er zur Atomkraft Klartext sprechen müsste. Lieber predigt man «Technologieoffenheit» – wie ein Priester, der nicht mehr an Gott glaubt und deshalb von einem «höherem Wesen» spricht

Tschernobyl! Fukushima!
Wer ist für den Tod?
Dabei geht vergessen, dass beide Unfälle nur sehr wenige Tote hinterlassen haben. Am erstauntesten zeigen sich die Menschen, wenn man ihnen die Bilanz von Tschernobyl vorlegt. Ich stütze mich auf die Erkenntnisse der Uno.
Die Uno hat die Folgen von Tschernobyl minutiös, mit enormem Aufwand und das jahrelang untersucht, beteiligt waren Hunderte von Wissenschaftlern, federführend waren zwei Sonderorganisationen der Uno: die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), und die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, die sicher nicht im Verdacht steht, allzu atomfreundlich zu sein.
Der Uno-Bericht erschien 2005, seither ist er ständig aktualisiert worden:
  • 28 Feuerwehrleute starben, als sie das Feuer im AKW löschten
  • 19 sogenannte «First Responder» starben in den kommenden 25 Jahren nach dem Unfall. Als First Responder werden Ärztinnen bezeichnet, oder Soldaten, Polizisten, Krankenschwestern, kurz: Leute, die sich sofort ins AKW begaben, um zu helfen
Das sind insgesamt 47 Opfer, die nach Auffassung der Uno-Experten sehr wahrscheinlich an den Auswirkungen der radioaktiven Strahlung, also im eigentlichen Sinne, an der Atomkraft gestorben sind.
Aber nicht einmal bei diesen 47 Toten war sich die Uno ganz sicher, wie sie einräumte: «die Todesursache» liesse sich in vielen Fällen «nicht eindeutig» der Radioaktivität zuschreiben, hielten die Experten fest.
Manche der First Responder starben in diesen 25 Jahren auch an Tuberkulose, an Traumata, an Herzinfarkten oder Leberzirrhose.
28 Feuerwehrleute kamen um. Und das war für deren Familien ohne Frage eine Tragödie. Wenn wir aber diese Zahl ins Verhältnis setzen, dann zeigt sich, wie tief diese Zahl dann doch wieder war – angesichts des angeblich verheerendsten, «grössten anzunehmenden Unfalls» der Weltgeschichte:
  • 48 Feuerwehrleute starben 2018 in den USA
  • 343 Feuerwehrleute verloren 9/11 bei der Terrorattacke auf das World Trade Center in New York ihr Leben
  • Durchschnittlich 13 bis 36 Menschen sterben in der Schweiz jedes Jahr an der Folge von Bränden
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9/11: Brennende Türme des World Trade Centers in New York.
Gewiss, unklar blieb 2005, wie viele Menschen noch an den Langzeitfolgen des Unfalls von 1986 sterben werden. Wer sich erhöhter radioaktiver Strahlung aussetzt, kann sich zum Beispiel Schilddrüsenkrebs zuziehen.
Die Uno registrierte in ihrem Bericht rund 20 000 Menschen, die 1986 unter 18 Jahre alt waren und die Schilddrüsenkrebs bekommen hatten – was mit Tschernobyl zusammenhängen dürfte.
2017 kam die Uno zum Schluss, dass etwa 5000 dieser Fälle zweifellos auf die radioaktive Strahlung zurückzuführen waren, noch wenige Jahre zuvor hatte man mit 16 000 Fällen bis ins Jahr 2065 gerechnet.
Schilddrüsenkrebs ist allerdings eine Krebsart, die selten zum Tod führt. Die Mortalität liegt bei 1 Prozent. Mit anderen Worten: Sollte es bei diesen 5000 bekannten Krebsfällen bleiben, dann kommen in den nächsten Jahrzehnten noch einmal 50 bis 160 Tote dazu.
Insgesamt sprechen wir dann von einer Opferzahl von:
  • 47
  • plus vielleicht weiteren 160 Toten
  • Total: rund 200 Tote

200 Todesfälle. Ohne Frage, jeder Tote ist einer zu viel.
Aber ist das tatsächlich der GAU, der uns dazu bewegen sollte, auf immer auf die Kernkraft zu verzichten?
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Im Vergleich zur Zahl der Todesfälle, die die Stromerzeugung durch Kohle, Wasser, Erdgas, Biomasse oder Erdöl bewirkt, ist das jedenfalls eine sehr kleine Opferzahl.
Der bisher schlimmste Unfall in der langen Geschichte der Stromwirtschaft ereignete sich 1975 in China. Infolge einer beispiellosen Überschwemmung brachen 62 Staudämme, unter anderem der Banqiao-Staudamm. Dabei starben zwischen 170 000 und 230 000 Menschen.
Banqiao? Nie gehört. Ist das ein chinesisches Zupfinstrument?
Niemand redet vom Banqiao-Staudamm, alle kennen Tschernobyl.
In Fukushima ist bisher übrigens kein einziger Mensch an den Folgen von radioaktiver Strahlung gestorben. Die japanische Regierung gewährte einem Arbeiter eine Pension, der behauptet hatte, er sei wegen Fukushima an Krebs erkrankt – was aber als höchst unwahrscheinlich gilt. Die Regierung wollte ihre Ruhe haben.
Insgesamt sind damals 20 000 Menschen in Japan umgekommen. Sie ertranken in den Fluten des Tsunami.


Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag Markus Somm

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