Somms Memo: Deutschland liefert der Ukraine kaum Waffen. Warum?
Olaf Scholz, Kriegskanzler.
Die Fakten: Deutschland schickt der Ukraine kaum Waffen – entgegen seinen Zusicherungen. Seit dem März trafen bloss zwei Lieferungen ein.
Warum das wichtig ist: Die Deutschen verkettet mit den Russen eine jahrhundertalte Hassliebe. Tut sich Kanzler Scholz deshalb so schwer?
«Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht»,
schrieb der grosse deutsche Dichter Heinrich Heine – als er bereits im Exil in Paris lebte, wo er 1856 dann auch starb.
Ähnliche Stossgedichte dürfte in diesen Tagen der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski rezitieren. Wenn ein Land nämlich seine Bitten nicht erhört, dann Deutschland: Seit Wochen stellt Olaf Scholz, der Bundeskanzler, zwar mehr Waffen in Aussicht – auch schwere, doch in der Ukraine kommt immer weniger an, je mehr Zeit verstreicht.
- Wie die deutsche Tageszeitung Welt enthüllt, tut Deutschland noch weniger als das Wenige, das bisher bekannt geworden ist. Seit neun Wochen, so die Welt, hat die Bundesregierung ihre militärische Unterstützung für die Ukraine «auf ein Minimum reduziert»
- Deutschland lieferte keine Panzer – wie versprochen, Deutschland lieferte aber auch keine leichten Waffen – wie versprochen
Stattdessen tröpfelten und rieselten ein paar militärische Produkte ins Land.
Insgesamt trafen zwischen dem 30. März und dem 26. Mai bloss zwei Waffenlieferungen aus der Bundesrepublik in der Ukraine ein, wie eine geheime Liste zeigt, die der Welt vorliegt:
- Im April schickten die Deutschen Ersatzteile für Maschinengewehre, «Anzündmittel», Sprengschnüre, Funkgeräte, Handgranaten, Sprengladungen und Minen
- Mitte Mai folgten 3000 Panzerabwehrminen und 1600 speziellere Richtminen zur Panzerabwehr
Das war’s dann. Deutschland, die grösste Volkswirtschaft Europas und die viertgrösste der Welt, zeigt sich ausserstande, mehr für die bedrängte Ukraine zu tun.
- Das ist natürlich das gute Recht der Deutschen
- bloss reden die deutschen Politiker anders
An erster Stelle der Regierungschef, wie eben in Davos am WEF, wo Scholz mit hamburgischem Pathos, also unterkühlt wie ein Fischkopf und doch gläubig wie ein Protestant, ausrief:
«Deshalb ist unser Ziel ganz klar: Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen. Und ich bin überzeugt: Er wird ihn nicht gewinnen!»
Und er warnte den russischen Präsidenten:
«Es wird keinen Diktatfrieden geben. Das wird die Ukraine nicht akzeptieren – und wir auch nicht.»
Am Samstag telefonierte Scholz allerdings wieder mit Putin. Ohne Erfolg, wie man aus Berlin vernimmt, – vielmehr drohte Putin «schlimmste Konsequenzen» an, sollte Deutschland der Ukraine Waffen zustellen.
Wovor haben die Deutschen Angst? Was hält Scholz zurück?
- «The German Angst», wie die Engländer sagen, vor dem Dritten Weltkrieg? – einer deutschen Spezialität, seit sie selbst den Zweiten Weltkrieg ausgelöst haben
- Oder liegt es an der merkwürdigen Beziehung, die Deutschland seit langem mit Russland verkettet? Einer Hassliebe unter zwei Kontinentalmächten, die sich ähnlicher sind, als den übrigen Europäern bewusst ist?
Tatsächlich rauschen die Jahrhunderte im Hintergrund, wann immer es Politiker aus Berlin, Moskau und St. Petersburg miteinander zu tun bekommen.
Wenn wir unter Deutschland auch Preussen verstehen, dann galt dabei meistens diese gefährliche Regel – gefährlich für Europa:
- den Deutschen/Preussen ging es gut, wenn sie gute Beziehungen zu den Russen pflegten
- den Deutschen/Preussen ging es an den Kragen, wenn das nicht der Fall war
Das, so meine Unterstellung, beeinflusst die deutsche Aussenpolitik gegenüber Russland bis heute. Mit Russen sprechen war schon immer lohnender für die Deutschen – als sich mit den übrigen Europäern zu verständigen
- Friedrich der Grosse stand im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) vor dem Untergang – bis Russland aus der breiten Koalition gegen Preussen ausscherte und Frieden anbot. Ohne Russland kein Aufstieg Preussens zur Grossmacht
- Als Preussen 1871 Frankreich überfiel, erklärte sich Russland für neutral – der Zar revanchierte sich dafür, dass Preussen 1863 den Aufstand der Polen gegen Russland nicht unterstützt hatte. Nachdem es den Deutsch-Französischen Krieg gewonnen hatte, einte Preussen die Deutschen. Ohne Russland kein Kaiserreich
- Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Deutschland nur deshalb (heimlich) wiederaufrüsten, weil es 1922 mit der Sowjetunion den Vertrag von Rapallo schloss. Im Geheimen durfte die Reichswehr nun in Russland ihre Luftwaffe und ihre Panzertruppen ausbilden. Eine Kooperation, die Hitler helfen sollte. Ohne Russland kein Blitzkrieg – diesen Kausalzusammenhang dürften die Sowjets noch verwünscht haben, als Hitler sie 1941 ebenfalls angriff
Gewiss, seither ist viel Zeit verflossen – und doch steht selbst das neue, geeinte Deutschland, das 1990 aus dem Beitritt der ehemaligen DDR zur BRD entstanden war, in der Schuld der Russen. Ohne Michail Gorbatschow, den grandiosen, wenn auch glücklosen russischen Reformer, ohne Zusammenbruch der Sowjetunion, wäre die deutsche Einheit wohl nie erzielt worden.
Treibt das die Deutschen um?
Heinrich Heine (1797-1856), ein unbequemer Deutscher, der nach Paris emigrierte.
«Ich kann nicht mehr die Augen schliessen,
Und meine heissen Tränen fliessen»,
fuhr Heine fort, um sich dann am Ende doch dem Westen zuzuwenden:
«Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.»
Ich wünsche Ihnen einen ebenso heiteren Wochenbeginn
Markus Somm