Somms Memo: Der Schweizer Film: Vom Elend in die Misere
Walo Lüönd (links) und Emil Steinberger im Film "Die Schweizermacher", CH, 1978.
Die Fakten: Das Filmgesetz soll dem Schweizer Film etwa 18 zusätzliche Millionen zuleiten. Derzeit erhält die Branche 110 Millionen Franken an Subventionen.
Warum das wichtig ist: Der Schweizer Film ist international kaum sichtbar und selbst im eigenen Land selten populär. Mehr Geld dürfte daran nichts ändern.
Wer den Zustand des Schweizer Films beurteilen will, muss sich drei Zahlen vor Augen führen:
- Der erfolgreichste Film aller Zeiten war bisher «Die Schweizermacher» von Rolf Lyssy. Das war 1978 – vor 44 Jahren (erste Zahl)
- Lyssys Werk brachte es auf 942 066 Kinoeintritte (zweite Zahl)
- 1978 wies die Schweiz eine Bevölkerung von 6,3 Millionen auf, 2020 lebten 8,6 Millionen hier – also 2,3 Millionen mehr (dritte Zahl)
Trotz eines so viel grösseren potenziellen Publikums hat es kein Filmemacher seit 44 Jahren fertiggebracht, auch nur annähernd so viele Zuschauer anzusprechen wie seinerzeit Rolf Lyssy mit seiner liebenswürdigen, durchaus kritischen Komödie über das schweizerische Einbürgerungsverfahren. Ein Thema, das wohl nirgendwo sonst auf der Welt die Leute zum Lachen bringen kann.
Den Schweizer versteht man am besten, wenn man schaut, wie er andere zum Schweizer machen will.
Wer nun glaubt, der Vergleich zwischen 1978 und der Gegenwart sei unfair, weil das Kino inzwischen an Bedeutung eingebüsst habe, täuscht sich.
- Abgesehen von den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 hat sich die Zahl der Kinobesuche in den vergangenen vierzig Jahren weitaus weniger zurückgebildet, als man denken könnte
- 1985 wurden 16,4 Millionen Kinoeintritte im Jahr gezählt, dreissig Jahre später, 2015 waren es immer noch 14,4 Millionen, und 2019 12,5 Millionen
Ein zweiter Vergleich belegt das Elend. Wenn wir nämlich das schweizerische Filmschaffen zum Beispiel neben jenes von Dänemark stellen, dann wird erst deutlich, wie erfolglos unsere Industrie arbeitet:
- 2020 betrug der Marktanteil schweizerischer Filme am Total der Kinoeintritte 13,8 Prozent. Das war einer der höchsten Werte je. In der Regel bewegt sich diese Zahl zwischen 4 und 6 Prozent (2021: 4,3 Prozent)
- 2020 brachte es die dänische Filmindustrie im eigenen Land auf einen Marktanteil von 50,4 Prozent (2021: 41 Prozent)
Gewiss, das ist ein brutaler Vergleich, zumal die Dänen derzeit als die vielleicht besten Filmemacher Europas gelten. Und doch muss man sich an diesem Land messen.
Es kämpft mit den gleichen Nachteilen wie die Schweizer Filmproduzenten
- Es ist genauso klein: 5,8 Millionen Einwohner, sein Markt also munzig
- Es wird eine Sprache gesprochen, die ausserhalb von Dänemark kaum jemand versteht – ähnlich wie unser Schweizerdeutsch
- Der Pool an talentierten Leuten ist ebenso begrenzt
Woran liegt es, dass die Schweizer zwar gute, weltweit gefragte Medikamente herzustellen vermögen, aber Filme produzieren, die jenseits von Allschwil und St. Margrethen kaum auf Interesse stossen – wogegen die Dänen Filme auf den Markt bringen, die international für Furore sorgen?
«Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach wir Armen!»
Klagte seinerzeit Johann Wolfgang von Goethe, der grosse deutsche Dichter – die Sorgen der schweizerischen Filmemacher voraussehend.
Tatsächlich weisen manche Apologeten der schweizerischen Film-Misere darauf hin, dass viele andere Länder den Film viel, viel grosszügiger mit staatlichen Mitteln förderten. Man erwähnt Frankreich oder Deutschland. Und was diese Länder angeht, stimmt das ja:
- Frankreich setzte im Jahr 2000 rund 415 Millionen Euro ein
- Deutschland 150 Millionen Euro
Seither haben sich diese Zahlen mit Sicherheit erhöht, neuere Zahlen habe ich innert nützlicher Frist nicht gefunden. Wenn wir aber Dänemark betrachten, dann kann es am Geld nicht liegen, dass dessen Filmemacher so hervorragende Produkte abliefern:
- Dänemark, der kleine Superstar, unterstützt zwar seinen Film genauso mit Subventionen, aber mit bloss 32 Millionen Euro (im Jahr 2000)
- Das war nicht viel mehr als die Schweiz. Diese stellte zu jener Zeit 25 Millionen Franken für den eigenen Film zur Verfügung
Gewiss, ich bin der letzte, der meinte, aufs Geld komme es überhaupt nicht an. Ein ausgewachsener Schweizer Spielfilm kostet heute etwa 3 Millionen Franken, das ist enorm viel Geld, aber gemessen an den Budgets von Hollywood ein lächerlicher Betrag.
- Ein durchschnittlicher Film eines grossen amerikanischen Studios kommt auf Produktionskosten von 65 Millionen Dollar
Verglichen mit solchen Zahlen bedeuten selbst die 18 zusätzlichen Millionen, die das neue Filmgesetz bringen soll, einen Tropfen auf den heissen Stein. Wer auf mehr Geld setzt, macht sich Illusionen, in einem Business, das sich doch bestens darin auskennt, wo die Illusion im Kinosaal anfängt – und wo sie aufhört.
Vielleicht liegt das Malaise eher daran, dass die meisten einheimischen Filmemacher zu selten beherzigen, was die erfolgreichsten Schweizer Filme ausgezeichnet hat:
- Ein entspanntes, wenn nicht herzliches Verhältnis zum eigenen Land und dessen Bewohner, die immer kurrlig sind, manchmal herzlos, oft geizig, meistens aber liebenswert
- Die besten Filme setzten auf das Schweizerische, ja Super-Schweizerische – und hatten keine Angst davor, das zu reproduzieren, was man auf Filmseminaren dann mit gerunzelter Stirn als «Klischees» bezeichnet
- Sicher gilt das für die Erstplatzierten in der ewigen Rangliste der Kassenschlager:
«Die Schweizermacher»,
«Die Herbstzeitlosen» und
«Mein Name ist Eugen»
Eine Liebeserklärung an den Bünzli, eine Hymne auf den schweizerdeutschen Krachlaut, eine Feier des eidgenössischen Biedersinnes: Das ist der gute Schweizer Film.
«Die Schweizermacher» erhielt übrigens keinen einzigen Franken öffentliches Geld.
Ich wünsche Ihnen ein wunderbares, illusionsfreies Wochenende
Markus Somm
P.S. Am Abstimmungssonntag, dem 15. Mai 2022, strahlen wir auf Nebelspalter.ch ein «Bern einfach Spezial» aus, wo Dominik Feusi und ich alle Ergebnisse einordnen und bewerten. Ab 16 Uhr. Es würde mich freuen, wenn Sie dabei sind.
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