Somms Memo: Brief an die EU: Wie Livia Leu die EU zum Verzweifeln bringt

image 2. Juni 2022 um 10:05
Livia Leu, Schweizer Diplomatin, Staatssekretärin und EU-Chefunterhändlerin.
Livia Leu, Schweizer Diplomatin, Staatssekretärin und EU-Chefunterhändlerin.
Die Fakten: Livia Leu, Staatssekretärin des EDA, hat der EU mit einem Brief geantwortet. Brüssel hatte um eine Klärung der schweizerischen Position in Sachen Bilaterale gebeten.

Warum das wichtig ist: Leu weist so gut wie alle Forderungen der EU zurück, bietet aber einige Zückerchen an. Ob das reicht, um die EU aufzuheitern, ist offen.


Wer den Brief liest, den Livia Leu, unsere Chefunterhändlerin für die Verhandlungen mit der EU, nach Brüssel geschickt hat, den ergreift eine kuriose Mischung von Stolz und Depression:
  1. Leu gibt nicht nach, sie bleibt fest, wo es darauf ankommt. 20 Points for Switzerland
  2. Sie stellt aber Konzessionen in Aussicht, die uns noch Migränen bereiten dürften
Dominik Feusi, Bundeshauschef des Nebelspalter, hat das Schreiben, das an Juraj Nociar ging, gestern als erster publik gemacht (Link). Nociar ist Kabinettschef von EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic, der das Dossier Schweiz bei der EU betreut.
Zum ersten Punkt:
  • Leu hält fest, dass die bilateralen Verträge «sehr gut funktionieren» und für beide Seiten – sowohl für die Schweiz als auch die EU – «vorteilhaft» sind. Gewiss, das ist ein No-Brainer, niemand schliesst einen Vertrag ab, der ihm nichts nützt, und trotzdem kann dies nicht oft genug betont werden. Wenn man daran denkt, dass die EU uns gerne als «Trittbrettfahrer» oder «Rosinenpicker» darstellt, was zudem gewisse europhile Politiker und Journalisten in unserem Land noch so gerne weiterverbreiten, dann ist das eine höchst erwünschte Klarstellung. Wir sind die Schweizerische Eidgenossenschaft – keine Ansammlung von Metaphern

  • Die Staatssekretärin streicht heraus, dass die EU es ist, die unser bilaterales Arrangement verändern möchte. Die EU ist die Bittstellerin – sie mag noch so mächtig sein. Das ist ein entscheidender Fakt. Und als Bittstellerin verlangt sie einen institutionellen Überbau für die Bilateralen Abkommen, der es ihr ermöglicht, einseitig alle Gesetze und Regeln für den Binnenmarkt weiterzuentwickeln – ohne dass wir dazu etwas zu sagen hätten. Man nennt das vornehm «dynamische Rechtsübernahme», etwas weniger vornehm könnte man geradesogut von einer «Kolonisierung» der Schweiz durch die EU sprechen. «Diese Vorschläge», schreibt Leu, «würden das Gleichgewicht der Interessen, das wir erreicht haben, verändern, also müssen wir über ein neues Gleichgewicht verhandeln

  • Leu klärt die EU darüber auf, dass wir nicht Mitglied der EU sind. Das bedeutet, dass wir zwar weniger Rechte besitzen als ein EU-Staat – das heisst aber auch, dass man nicht das Gleiche von uns erwarten darf.
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So weit, so gut.
Dann macht Leu aber ein Zugeständnis, so gigantisch wie das Matterhorn, das uns womöglich noch teuer zu stehen kommt.
  • Sie spricht zwar von einem «Paradigmenwechsel», den die EU mit dem Rahmenabkommen angestrebt hat, will diesen aber im Grundsatz akzeptieren,
  • sofern die Schweiz in gewissen Gebieten Ausnahmen erhält. So vor allen Dingen beim Lohnschutz oder der Unionsbürgerrichtlinie, später auch bei neuen Abkommen über Elektrizität oder Lebensmittelsicherheit
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Landsgemeinde in Appenzell.
Warum ist das ein gigantisches Zugeständnis, warum ist es falsch?
Letzten Endes geht es um den Kern dessen, was das Rahmenabkommen, also diese sogenannte dynamische Rechtsübernahme, zur Zumutung macht – ganz gleich, wie viele Ausnahmen Livia Leu in den kommenden Jahren noch aushandelt.
  • Wir sind nach wie vor eine Demokratie. Das heisst, alle Regeln und Gesetze, denen wir uns hierzulande unterziehen müssen, sollten auch von uns beschlossen werden
  • Dafür haben wir ein Parlament, wo Volksvertreter sitzen, die wir gewählt haben. Dafür haben wir die direkte Demokratie, was es uns Bürger gestattet, das Parlament allenfalls zu korrigieren.
  • Dieses Recht hat so gut wie niemand auf dieser Welt

Warum sollen wir Bürger je ein Abkommen gutheissen, das uns auf Dauer entmachtet? Nicht in allen Fragen, zugegeben, aber doch in einem wesentlichen Bereich unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Alle Gesetze, welche Brüssel jetzt und künftig als für den Binnenmarkt relevant hält, macht Brüssel.
Bern nickt ab, Bern sagt Merci, Bern druckt nach.
  • Vielleicht wäre es auch angezeigt, einen Brüsseler Beamten damit zu beauftragen, die «Amtliche Sammlung des Bundesrechts» gleich selbst nachzuführen
  • Neu hiesse diese: «Amtliche Sammlung des Bundesrechts, es sei denn, die EU hat etwas anderes verfügt»

Gewiss, manche Politiker gehen davon aus, dass sie dann vielleicht in Brüssel Einfluss nehmen können, – das ist das Kalkül jener, die dem EU-Beitritt das Wort reden. Für den einzelnen Bürger aber steht dieser Weg nie offen.
Natürlich wird uns versichert, die direkte Demokratie sei nicht gefährdet, wir könnten nach wie vor jedes EU-Gesetz, das uns nicht passt, mit dem Referendum zurückweisen. Das stimmt, doch es wäre neuerdings eine Demokratie, wo Strafen winken, wenn man falsch entscheidet:
  • Die EU soll, das ist Verhandlungsgegenstand, das Recht erhalten, uns dafür zu sanktionieren
  • Falls die EU noch weitergehen will, so war es jedenfalls im gescheiterten Rahmenabkommen vorgesehen, könnte sie uns auch die «Guillotine» androhen, was zur Kündigung aller bilateralen Abkommen führen würde

Wer stimmt da noch gerne ab?
Livia Leu hat in ihrem etwas hinterhältigen, aber klugen Brief allerdings von der EU so viele Ausnahmen verlangt, dass es unwahrscheinlich scheint, dass die EU darauf eingeht. Das ist das Gute an der EU. Sie ist berechenbar, sie ist stur.
Am Ende, so meine Vermutung, werden wir jetzt noch einige Jahre uns gegenseitig unverschämte Briefe schicken. In der Sache, so meine ich, sind die Positionen unvereinbar, solange man in Brüssel am Dogma des «homogenen Binnenmarktrechtes» festhält.
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Da die EU aber auch ein katholisches Projekt ist, darf mit der bewährten katholischen Beweglichkeit gerechnet werden.
Oder wie es Papst Franziskus vorlebt. Als ihm ein Schweizer Gardist neulich sagte, er könne sich jetzt nicht hinsetzen, da sein Hauptmann ihm befohlen haben, zu stehen, um den Papst jederzeit zu schützen, entgegnete Franziskus:
«Oh, ist das so? Nun, ich bin der Papst, und bitte Sie, sich hinzusetzen». Und Papst Franziskus verschwand für einen Moment und kehrte mit einem Sandwich zurück.

Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit Markus Somm

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