Somms Memo: Angela Merkel: «Ich entschuldige mich nicht!» – oder doch?
Angela Merkel, ehemalige deutsche Bundeskanzlerin, auf der Theaterbühne des Berliner Ensembles.
Die Fakten: Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt ihr erstes, längeres Interview. Mit Blick auf Russland sagt sie: «Ich werde mich nicht entschuldigen».
Warum das wichtig ist: Der Fall Merkel ist tragisch. Ihre Politik trug dazu bei, dass Putin nun Krieg führt. Merkels Schadensbilanz ist gross – grösser als den meisten bewusst.
Angela Merkel war immer die rätselhafteste, mithin faszinierendste Politikerin der Gegenwart.
- Sie wirkte so bescheiden, als wäre sie ihr Leben lang eine beliebte, aber langweilige Physiklehrerin in Luckenwalde gewesen (Luckenwalde liegt in der ostdeutschen Provinz)
- Gleichzeitig war sie einer der mächtigsten Regierungschefs der Welt
Schein und Sein lagen weit auseinander, doch die meisten meinten, sie sei mehr, als sie schiene. Dabei war es vielleicht umgekehrt.
Als der bekannte Spiegel-Autor Alexander Osang Angela Merkel diese Woche im Berliner Ensemble zu einem Gespräch empfing, wartete ganz Deutschland, so schien es, gespannt darauf, wie Merkel sich aus der Affäre ziehen würde, was den Krieg in der Ukraine betraf:
- Mea Culpa! Ich habe Putin ermöglicht – wollten die einen hören, die Merkel nicht mochten
- Alles richtig gemacht! Merkel unser – darauf hofften die anderen, die Bewunderer
Wie immer bei Merkel, tat sie beides – und beides nicht.
«Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen», sagte sie zuerst.
Wenn die Diplomatie scheitere, heisse das nicht, dass man es nicht hätte versuchen sollen.
Wer könnte da widersprechen?
Doch einige Minuten später sagte Merkel Dinge, die ihr wohl selbst zu denken gaben.
- Hätte der Westen nach der Annexion der Krim durch Putin härter reagieren müssen? Diese Frage stellte sie sich selber. Ja, wahrscheinlich, liess sie durchblicken, auch wenn «wir nicht nichts gemacht haben» – eine doppelte Verneinung bedeutet eigentlich immer ein dreifaches Ja
- Ihre Partei, die CDU, habe stets darauf gedrängt, die Rüstungsausgaben zu steigern – «es ist mir nicht gelungen»
Kurz, sie wollte, konnte, sollte, und tat es nicht – eine der mächtigsten Politikerinnen der Epoche.
Als Osang, der sonst nicht gerade als unbequemer Befrager aufgefallen war, sondern eher als Flötist im Merkel-Orchester, dann doch mit einer unbequemen Feststellung überraschte:
«Die Bundeswehr ist unter Ihrer Ägide schon verlottert…»,
da gab sie ihm den strengen Fräulein-Rottenmeier-Blick und fiel ihm ins Wort:
«Also verlottert…», um sich gleich selbst zu unterbrechen:
«Haben Sie gedient?» – auf Schweizerdeutsch übersetzt: Waren Sie im Militär?
«Ja!», meldete sich Osang an und gab eifrig seinen Dienstrang an:
«Ich war Gefreiter in der Nationalen Volksarmee». Das war die Armee der DDR. Osang ist wie Merkel in der DDR aufgewachsen.
Kampfappell: Soldaten der Nationalen Volksarmee (DDR) marschieren am 13. August 1986 durch Ost-Berlin.
Nachdem sie so etwas Druck von sich selbst weggenommen hatte, räumte Merkel aber ein:
- Die Bundeswehr weist nicht mehr die Schlagkraft auf, die sie während des Kalten Krieges besessen hat
- die «militärische Abschreckung» war nicht vorhanden, die Putin hätte abschrecken können
Und dann sagte sie diesen bemerkenswerten Satz:
«Das ist die einzige Sprache, die Putin versteht».
Aha.
Nachdem Merkel 16 Jahre lang eine Politik betrieben hat, die fast systematisch diese Einsicht ignorierte, fragt man sich
- Hat Merkel das erst jetzt bemerkt?
- Oder müsste sie sich eben doch entschuldigen, weil sie sehenden Auges zuliess, dass Putin die erstbeste Gelegenheit nutzte, um Krieg zu führen?
Merkel, das Rätsel.
Merkel, die Sphinx, die Geheimnisse hat, die sie selbst nicht enthüllen kann, weil sie gar nicht darum weiss.
Tatsächlich wiegt Merkels Verantwortung für das Debakel in Osteuropa weit schwerer, als sie sich das eingestehen mag – oder ihre vielen Anhänger, die sie weltweit hat:
- Merkel hat alles dafür getan, dass die deutsche Bundeswehr heute etwa als so furchterregend gilt wie die freiwillige Feuerwehr von Luckenwalde. Putin sah sich das an, Putin amüsierte sich, Putin zog seine Schlüsse
- Es sollen weniger Panzer einsatzfähig als in der Schweiz, sagt mir ein (schweizerischer) Offizier, U-Boote können nicht mehr tauchen, Helikopter kriechen am Boden: Verlotterung und Misere, wohin man blickt
- Merkel hat wiederholt Politiker zu Verteidigungsministern bestimmt, die in ihrem Amt grandios versagten, unter anderem Ursula von der Leyen, die nachher nach Brüssel weitergereicht wurde, um EU-Kommissionspräsidentin zu werden – weil sie sich bewährt hatte oder weil sie gescheitert war? Nie erhielt man den Eindruck, die Bundeswehr stellte für Merkel eine Priorität dar
- Stattdessen hob sie faktisch die allgemeine Wehrpflicht auf. Sie gilt seit 2011 nur noch, wenn Krieg ausbricht 1989 wies die Bundeswehr eine Truppenstärke von rund 490 000 Mann auf. 2021 waren es noch 180 000. Die Schweiz, zehn Mal kleiner, besitzt derzeit (noch) eine Armee mit 140 000 Soldaten
Verlotterung und Misere. Das ist das eine. Merkel hat Putins Krieg aber auch in anderer Weise ermöglicht.
- Merkels Energiewende war eine Wende zum russischen Gas. 2021 bezog Deutschland 55 Prozent seines Erdgases aus Russland. Damit finanzierte man Putins Aufrüstung, damit begab sich Deutschland in eine inzwischen schwer zu lösende Abhängigkeit von Putin. Merkel weigerte sich wiederholt, die zweite direkte Pipeline von Russland nach Deutschland, Nord Stream 2, zu unterbinden. Als US-Präsident Donald Trump darauf drang, stellte sie sich taub.
- Merkel hintertrieb 2008 gegen den Willen der USA, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wurde. «Die Ukraine war zu unstabil, die Ukraine war keine Demokratie», sagt sie heute. Und Nato-Mitglied Türkei? Hätte die Ukraine der Nato angehört, Putin wäre 2022 wohl kaum einmarschiert
Merkel, die tragische Heldin.
Offensichtlich war sie eine Meisterin ihres Faches, wenn es darum ging, an die Macht zu kommen und die Macht gegen alle Rivalen zu verteidigen. Ohne Anstrengung und ohne Talent überlebt man nicht 16 Jahre im Amt. Alle Konkurrenten sind untergegangen, niemand war ihr gewachsen, Merkel überdauerte alle.
Sie kann Macht – um das neudeutsch auszudrücken.
Wenn es sich aber um inhaltliche Anliegen handelte, zeichnete sich Merkel durch Unentschiedenheit und Schwäche aus. Eine geschmeidige Härte, eine harte Geschmeidigkeit.
Sie tat immer beides, um am Ende nichts zu tun.
Diese Kanzlerin gab nach, sobald der Zeitgeist anklopfte oder die Umfragen um einen Termin baten. Von unerschütterlichen Überzeugungen war selten etwas zu spüren, von ewigen Werten, die sie über alle Zeit verteidigte, hörte man wenig. Wo man eine politische Riesin im Kanzleramt vermutete, hatte sich eine technokratische Zwergin eingerichtet.
Merkels Hinterlassenschaft.
Wenn die Historiker dereinst über Merkels Zeit urteilen werden, dann dürfte diese als eine verlorene Zeit in die deutsche Geschichte eingehen. Vielleicht sogar als eine verheerende.
Aber sie bleibt liebenswürdig, und ich meine das ernst, das bewies sie auch im Berliner Ensemble von neuem.
Auf die Frage, warum sie sich so selten in der Öffentlichkeit geäussert habe, seit sie nicht mehr Kanzlerin ist, sagte sie:
«Ich suche mir aus, was ich mache, wo ich auftrete, was ich machen will. Ich möchte Sachen machen, die mir Freude machen. Ich möchte jetzt keine Journalistenschelte machen, aber wenn ich dann lese «Merkel macht nur noch Wohlfühltermine» – dann kann ich nur sagen: Ja.»
Helles, vergnügtes Lachen im Publikum.
Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende
Markus Somm