Somms Memo #72 - Die neue Mitte in Bern. Gescheitert oder gefordert?
Fronleichnamsprozession in der Schweiz. (Appenzell um 1960).
Warum das wichtig ist: Im Kanton Bern, einer einstigen reformierten Hochburg, scheint das Experiment «Mitte» gescheitert. 1 + 1 ergab nicht 3, sondern 1,5. Muss Gerhard Pfister über die Bücher?
Der neue Name «Die Mitte» für die ehemalige CVP (und ihre Partnerin BDP) sollte vor allen Dingen eines leisten:
- Wählbar werden für Leute, die die CVP vorher nie gewählt hätten
- Weil sie sich am C störten, das für sie, zumeist Reformierte, trotzdem «katholisch» hiess
Zwar war das schon lange unfair. Die CVP, die früher ohne Frage mit der römisch-katholischen Kirche verbunden gewesen war, hatte sich längst von den Ratschlägen der Bischofskonferenz oder gar des Papstes emanzipiert. Irgendwann in den 1960er Jahren hatte die Partei aufgehört, ihre Bundesräte von den Bischöfen absegnen zu lassen, was informell vorher durchaus vorgekommen war.
Doch die Zahlen sprachen immer die gleiche Sprache. In reformierten Kantonen kam die CVP nie über ein Nischendasein hinaus, abgesehen von den grossen Städten, wo eine beachtliche katholische Diaspora zugezogen war.
An den vielen Namensänderungen lässt sich die Verzweiflung einer Partei ablesen, die sich schon lange über das katholische Milieu hinaus ausbreiten wollte, es aber nie schaffte.
Im 19. Jahrhundert nannte man sich noch selbstbewusst «katholisch-konservativ», und das Kürzel KK blieb bis in die 1950er Jahre eine Art Badge of Honor, ein Ehrenzeichen, das
- die einen liebten (die gläubigen oder loyalen Katholiken)
- und die anderen hassten (die meistens schon lange ungläubigen Reformierten)
Der sogenannte Kulturkampf des 19. Jahrhunderts, als der siegreiche (und arrogante) Freisinn die Katholiken der Schweiz, die oft auf der konservativen Seite gestanden hatten, verachtete und unterdrückte, als ob es sich um Schweizer zweiter Klasse handelte, dauerte bis in die 1970er Jahre. (Reformiert und freisinnig war lange fast dasselbe).
Was haben wir sie geliebt, die anti-katholischen Vorurteile.
Mein Vater, katholisch, besuchte in den 1950er Jahren die Kantonsschule St. Gallen, die freisinnig und reformiert beherrscht war. In einer Klasse von etwa 20 Schülern gab es vier Katholiken – Katotschen genannt (meine Mutter war reformiert, so dass ich beide christlichen Abgründe kannte).
Wenn einer der vier Katholiken am Morgen früh gähnte, machte sich der Lehrer über sie lustig:
«Aha, musstet Ihr wieder in die Frühmesse?» HaHaHa.
- 1912 hiess die Partei der Katholiken neu «Schweizerische Konservative Volkspartei» (KVP)
- 1957 wurde aus der KVP die «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei» (KCV)
- 1970 schliesslich gab sie sich abermals einen neuen Namen: CVP, Christlichdemokratische Volkspartei. Das inzwischen ambivalente Markenzeichen KK sollte verschwinden – nach dem Vorbild der deutschen CDU, die es tatsächlich fertiggebracht hatte, auch für Protestanten wählbar zu werden
Das lag aber an Hitler. Ihm war das lutherische deutsche Bürgertum so vollständig verfallen, dass es froh war, in der einst katholischen CDU, die vorher Zentrum geheissen hatte, Unterschlupf zu finden. Die deutschen Katholiken hatten sich gegenüber den Nazis als immuner erwiesen (ein bisschen).
Gerhard Pfister, Nationalrat (ZG), Präsident zuerst der CVP, dann der Mitte.
1970 war man in der CVP überzeugt: Das Katholische – einst ein Garant des Erfolges – war zur Hypothek geworden. Doch das C reichte offenbar nicht, um das K in Vergessenheit zu bringen.
Wie ein Brandmahl wurde die CVP das KK und das C nie los.
- In den vorwiegend reformierten Gebieten blieb die CVP für die meisten Wähler stets ein schwarzes Tuch
- Als die BDP vor dem Kollaps stand, griff Gerhard Pfister, der Präsident der CVP, deshalb zu. Er gab das vermaledeite C auf und liess die Partei neu «Die Mitte» taufen
Ich hielt das seinerzeit für einen Fehler. Inzwischen bin ich anderer Meinung. Doch die Berner blieben offensichtlich skeptischer.
In den Berner Wahlen, die am letzten Sonntag stattfanden, erzielte die neue Mitte bloss 7,4 Prozent Wähleranteil. Sie büsste 2 Prozent ein – noch 2018 waren CVP und BDP zusammen auf 9,4 Prozent gekommen.
Wenn man die Zahlen der BDP betrachtet, dann setzte sich deren Niedergang ungebremst fort. Von einer Schubumkehr ist nichts zu erkennen.
Gewiss, die BDP hat seit dem Rücktritt von Eveline Widmer-Schlumpf im Jahr 2015 ihre Raison d’être verloren. Die Bundesrätin, die aus der SVP ausgeschlossen worden war, weil sie sich anstelle von Christoph Blocher hatte wählen lassen, brauchte seinerzeit eine neue Partei. Ohne Partei konnte im Parlament noch nie jemand als Bundesrat überleben. So entstand die BDP, die Bürgerlich-Demokratische Partei.
Ein Ego-Projekt im Grunde, keine politische Bewegung.
Der Kanton Bern entwickelte sich zur Hochburg der BDP. Hier lebten viele, die mit dem Zürcher Kurs, also dem Blocher-Kurs in der SVP, schon lange gehadert hatten. Man hoffte auf eine neue bürgerliche Partei – und am Anfang schienen sich die Hoffnungen zu erfüllen.
2011 trat die Berner BDP das erste Mal bei kantonalen Wahlen an. Sie erreichte auf Anhieb 16 Prozent.
Das war ein gutes Resultat. Es blieb das beste aller Zeiten. Seither begab sich die Partei in den Sturzflug.
Gerhard Pfister hat eine Partei übernommen, die schon lange nicht mehr an ihre eigene Existenzberechtigung glaubte.
- Ihre Amtsträger: Bankrotteure, die in Schwermut versanken
- Ihre Organisation: eine Konkursmasse
Und wie das so ist mit konkursiten Firmen, die man aufkauft: Manchmal ist sie zu Recht bankrott gegangen und nichts mehr ist zu retten. Oder aber die Firma blüht unter dem neuen Management auf.
Ohne Frage: Pfister, der neue CEO, ist gefordert. Noch brummt die neu-alte Firma in der Berner Gewerbezone nicht.
Vielleicht tröstet ihn Winston Churchill, der erfolgreichste politische CEO der Weltgeschichte:
«Success is not final; failure is not fatal: it is the courage to continue that counts.»
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag
Markus Somm