Somms Memo #70 - Warum verehrt Putin Stalin?
Josef Stalin, Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, kurz: der Diktator.
Warum das wichtig ist: Wer verstehen will, welche Ziele Putin verfolgt, tut gut daran, Stalin zu studieren – ein Verbrecher, den viele Russen nach wie vor bewundern.
Als der französische Präsident Emmanuel Macron vor dem Krieg Wladimir Putin aufsuchte, um ihn zur Vernunft zu bringen, war er überrascht, so berichtet ein französischer Diplomat, wie Putin nur noch in der Vergangenheit zu leben schien. Der russische Präsident schweifte in Exkurse über die Geschichte seines Landes ab, er belehrte Macron über die grossen Zeiten des Zarenreichs, er erzählte Macron, wie Russland vor tausend Jahren in Kiew entstanden sei.
Macron hätte nicht überrascht zu sein brauchen. Seit Jahren fällt auf, wie Putin sich mit den Zaren identifiziert, während er die Sowjetunion eher mit gemischten Gefühlen betrachtet:
«Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben möchte, hat kein Hirn».
Kurz vor dem Überfall der Ukraine referierte er abermals über Geschichte, dabei warf er Lenin, dem Gründer der Sowjetunion, vor, das ganze Durcheinander um die Ukraine erst geschaffen zu haben. Wladimir Illjitsch Lenin hat in den Augen von Putin die Ukraine verloren:
- Weil er sie 1918 zuerst den Deutschen überlassen hatte – wenn auch unfreiwillig, weil die Deutschen sonst sein Regime zerstört hätten. Die Ukraine wurde im Ersten Weltkrieg – nicht zuletzt dank Deutschland – unabhängig. Allerdings für eine sehr kurze Zeit
- Denn Lenin eroberte sie bald zurück. Aber er machte sie innerhalb der Sowjetunion zur (pseudo)-unabhängigen Sowjetrepublik
Das habe, so meint Putin, die Ukrainer erst auf die Idee gebracht, sich für eine eigene Nation zu halten. Wovon Putin bis heute nichts wissen will.
Sein Krieg sollte ihn mittlerweile eines Besseren belehrt haben. Selbst die russischsprachigen Ukrainer, so macht es den Eindruck, wehren sich gegen die russische Invasion.
Josef Stalin dagegen, den Nachfolger von Lenin, beurteilt Putin vollkommen anders. Stalin ist für ihn offensichtlich ein Vorbild. Seit Jahren wird in den russischen Schulbüchern und Medien das Bild des einstigen kommunistischen Diktators nach allen Regeln der Kunst restauriert:
- Seine Verbrechen werden systematisch kleingeredet
- Sein Sieg gegen die Nazis im «Grossen Vaterländischen Krieg» wird zum bedeutendsten Triumph der russischen Geschichte überhaupt stilisiert
Wenn es je eines Beweises bedurft hätte, dass der Staat, wenn er will, das Geschichtsbild seiner Bürger formen kann, dann hat ihn Putin erbracht. Umfragen zeigen, wie sich das Image von Stalin seit Putins Amtsantritt laufend verbessert hat. 41 Prozent der Russen empfinden heute wieder «Respekt» für Stalin.
Angesichts der Tatsache, dass Stalin nach neuesten Forschungsergebnissen rund 20 Millionen Menschen umbringen liess, handelt es sich um eine spektakuläre Geschichtsklitterung. Respekt, Respekt für einen der grössten Massenmörder der Weltgeschichte.
Man stelle sich vor, 41 Prozent der Deutschen bekundeten heute noch «Respekt» für Adolf Hitler, einen der grössten Massenmörder der Weltgeschichte.
Warum verehrt Putin Stalin? Die Frage ist von Belang. Zumal sie nicht bloss die Persönlichkeit des aktuellen Kremlherrschers offenbart, sondern auch Hinweise auf Putins Kriegspläne gibt.
- Das russische Imperium verlor nach der Russischen Revolution riesige Territorien: mitunter Polen, Finnland, das Baltikum, Bessarabien
- Insgesamt 34 Prozent seiner Bevölkerung, 54 Prozent seiner Industrie, 89 Prozent seiner Kohlenminen, 26 Prozent seiner Eisenbahnen
- Stalin holte bis 1945 die meisten der verlorenen Gebiete wieder zurück
Im Grunde übertraf Stalin, der «rote Zar», selbst die Zaren.
Wenn man nämlich den Warschauer Pakt mit dessen kommunistischen Satellitenstaaten als nichts anderes als ein gigantisches Protektorat der Sowjetunion ansieht – wofür manches spricht –, dann dehnte Stalin das russische Imperium so weit nach Westen und Süden aus wie nie zuvor.
Die Russen standen an der Elbe (DDR), sie lagerten vor Wien (Ungarn), sie befanden sich vor den Toren von Konstantinopel (Bulgarien).
Um das einstige Russische Reich wiederherzustellen, schreckte Stalin vor nichts zurück.
Ideologie, Moral, Verträge? Bourgeoises Geschwätz.
Zuerst paktierte er 1939 mit Hitler. Die beiden Diktatoren steckten in einem geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt ihre Einflusssphären ab.
Während Hitler den Westen Polens eroberte, drang Stalin in den Osten des Landes ein. Sofort eröffnete er einen Vernichtungsfeldzug gegen die polnischen Eliten.
- Tausende wurden getötet
- Hundertausende nach Sibirien deportiert.
Kurz darauf besetzte er die baltischen Staaten, begann einen Krieg mit Finnland und marschierte in Bessarabien (heute Moldau) ein, das damals zu Rumänien gehörte. Alle diese Gebiete waren einst Teil des russischen Zarenreiches gewesen.
Als Hitler 1941 wider Erwarten seinen ehemaligen Verbündeten überfiel, orientierte sich Stalin neu und suchte nun das Bündnis mit dem Westen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Stalin, der sich in Amerika nun plötzlich zum hochgeschätzten «Uncle Joe» verwandelte, bereits sechs ehemals unabhängige Länder angegriffen und annektiert. Wäre die Schweiz in der Nähe gelegen: Warum nicht auch wir?
Uncle Joe. Ein blutiger Onkel.
Auch im Baltikum liess er die Mörder seines Geheimdienstes wüten:
- 53 000 Letten starben oder wurden deportiert
- Ebenso 75 000 Litauer und 60 000 Esten
Und heute wundert sich Putin (angeblich), warum diese Staaten so rasch als möglich der Nato beitraten, als sich nach 1991 die Gelegenheit dazu bot.
1945 zählte Stalin aber zu den strahlenden Siegern. Der Westen überliess ihm Osteuropa – aus Grosszügigkeit, aus Desinteresse, aus Kriegsmüdigkeit.
Was will Putin?
«Ich vertraue niemandem», sagte sein Vorbild Stalin, «nicht einmal mir selbst».
Ich wünsche Ihnen ein geruhsames Wochenende
Markus Somm