Somms Memo #68 - Putin will das Zarenreich zurück, Biden die Sowjetunion
Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. segnet Wladimir Putin (2018 in Moskau).
Warum das wichtig ist: In Krisenzeiten erinnern sich Politiker an die Geschichte. Immer mit gutem Grund, aber manchmal setzen sie auf das falsche Vorbild. Das gilt für Putin genauso wie für Biden.
Ashton Carter, ein Harvard-Professor und ehemaliger US-Verteidigungsminister unter Barack Obama, hat einmal festgestellt:
«Die Sprache, die die Politiker in den Korridoren der Macht sprechen, ist nicht Wirtschaft oder Politik. Es ist Geschichte».
Wenn Putin die Ukraine angreift, dann tut er das nicht, weil er sich vor der Nato fürchtet oder die Rohstoffe des Landes begehrt. Vielmehr hat er sich dazu entschlossen, weil die Ukraine fast dreihundert Jahre lang eine Kernprovinz des russischen Imperiums gewesen war. Putin ist ein Bewunderer der Zaren.
Nicht die Sowjetunion will er wiederherstellen, wie man gelegentlich vernimmt, sondern das Zarenreich – in modernisierter Form, mit orthodoxer Kirche, aber ohne Thron für die Romanows, wie die einstige kaiserliche Dynastie hiess.
Und wenig beschleunigte seinerzeit den Aufstieg des Zarenreiches zur europäischen Grossmacht mehr als die Eroberung der Ukraine im 17. Jahrhundert. Vorher hatte das Land zu Polen-Litauen sowie zum Osmanischen Reich gehört.
- Putin verachtet Lenin, weil er das Zarenreich zerstört hat
- Umso mehr verehrt er Stalin, zumal dieser «rote Zar» die Sowjetunion wieder fast so umfangreich gemacht hat, wie das Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg gewesen war
Allerdings denkt nicht nur Putin in historischen Zusammenhängen. Wahrscheinlich die meisten Politiker, die einen Ehrgeiz entwickeln, der über die sachgerechte Verwaltung der Kehrichtverbrennungsanlage in ihrem Wahlkreis hinausgeht:
- Boris Johnson trat für den Brexit ein, im Glauben, damit Winston Churchill, dem Retter Grossbritanniens im Zweiten Weltkrieg, nachzueifern
- Olaf Scholz stellte seine neue Regierung mit der Losung vor: «Mehr Fortschritt wagen», in Anlehnung an Willy Brandts berühmtes Versprechen: «Mehr Demokratie wagen»
- Joe Biden trat an, um den grossen Franklin D. Roosevelt mit einem zweiten New Deal zu übertreffen
Der Blick in die Geschichte bestimmt auch die aktuelle Strategie des Westens gegenüber Russland. Oft hört man neuerdings, es sei ein neuer Kalter Krieg ausgebrochen, und ganz von der Hand zu weisen ist der Vergleich nicht.
Es gibt Ähnlichkeiten:
- Im Kalten Krieg I führte die Sowjetunion eine breite Allianz von anti-westlichen Mächten gegen die USA und ihre Verbündeten in Westeuropa. Jetzt versucht Putin ein neues Bündnis zu formen; mit Iran, Syrien, Pakistan – sowie China. Von neuem gegen den Westen
- Man drohte sich zwischen 1950 und 1989 zwar gegenseitige atomare Vernichtung an, es kam jedoch nie zum heissen Krieg zwischen den Supermächten. Heute droht Putin mit Atomwaffen, und Biden warnt ihn davor
- Stattdessen fanden Stellvertreterkriege statt: in Korea, in Vietnam, in Afrika, in Afghanistan
Heute, so der Eindruck, könnte der Ukraine-Konflikt geradesogut zum Stellvertreterkrieg heranwachsen, der sich jahrelang hinzieht, weil der Westen die Ukraine mit Waffen, mit Material und Geheimdienstinformationen versorgt, ohne militärisch selber einzugreifen. Das ärgert zwar Russland, zwingt es aber nicht zum Rückzug, noch reicht es wohl, um Putin endgültig zu besiegen.
Die Ukrainer kämpfen für den Westen, weil der Westen lieber mit feierlichen Worten und blau-gelben Fahnen für den Weltfrieden kämpft als mit eigenen Soldaten.
Gleichzeitig verewigt sich so das Patt: Russland ist zu stark, um nicht zu gewinnen, die Ukraine aber dank dem Westen stark genug, um die Niederlage auf Jahre hinauszuschieben.
Von 1979 bis 1989 versuchte die Sowjetunion Afghanistan zu erobern. Ohne Erfolg.
Gleicht damit die Lage nicht der Situation in Afghanistan?
Nachdem die Sowjets das Land 1979 überfallen hatten, um ein kommunistisches Regime in Kabul an der Macht zu halten, unterstützte der Westen den afghanischen Widerstand – mit Waffen, mit Material, mit Geheimdienstinformationen. Zehn Jahre lang bissen sich die Sowjets die Zähne aus, bis sie 1989 abzogen, ohne gewonnen zu haben. Fast 15 000 sowjetische Soldaten waren gefallen.
Es gibt Hinweise, dass die Biden-Administration genau diese Strategie verfolgt. Unter dem Eindruck der Geschichte setzen die Berater des US-Präsidenten die Ukraine mit Afghanistan gleich. Sie wollen Putin ausbluten. Je länger der Krieg ihn beschäftigt, desto besser, lautet die herzlose Annahme, – herzlos, wenn man an die Ukrainer denkt, die für diese Strategie den höchsten Preis bezahlen.
Es besteht aber auch ein Risiko für den Westen.
Selten wiederholt sich die Geschichte.
Was, wenn Putin trotzdem innert nützlicher Frist gewinnt – weil die Ukraine, ein modernes, flaches, höchst verletzliches Land eben doch schwerer zu verteidigen ist als das mittelalterliche, religiös-fanatische Bergland am Hindukusch?
Selenski ist kein Taliban.
Vielleicht ist die Ukraine nicht Afghanistan, sondern Korea. Dort gelang es den Amerikanern nur mit einem Krieg (1950-1953), den sie selber führten, den Süden vor den Kommunisten zu schützen. Südkorea ist heute noch frei. Eine tüchtige, wohlhabende Demokratie.
«Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen», sagte einst der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana.
Die Frage bleibt aber: Welche Vergangenheit genau?
Ich wünsche Ihnen einen anregenden Tag
Markus Somm