Somms Memo #65 - Selenski – oder wie die Fiktion zur Realität wurde

image 18. März 2022 um 11:00
Wolodimir Selenski, Präsident der Ukraine.
Wolodimir Selenski, Präsident der Ukraine.
Warum das wichtig ist: Der ukrainische Präsident bringt es fertig, den Westen fast im Alleingang gegen Putin zu mobilisieren. Dabei schont er niemanden: Er setzt Joe Biden unter Druck und beschämt Olaf Scholz. Er ist höflich, aber unbequem.
Als Wolodimir Selenski am Mittwoch zu den Mitgliedern des amerikanischen Repräsentantenhauses und des Senats sprach, hätte man nicht merken können, dass er einmal ein Schauspieler gewesen war:
  • Er redete eher verhalten, schien gar abzulesen
  • Er blickte das Publikum kaum an
  • Auch wirkte er müde und wenig feierlich

Vielleicht lag es gerade daran, dass seine Rede die Amerikaner zum Weinen brachte.
Wenn die Lage so ernst ist, dann braucht es keine PR-Berater, die ihm sagen, wie er zu wirken hat, wenn Kinder sterben, dann hat er es nicht nötig, das mit einem melodramatischen Blick zu begleiten.
In einer Zeit, da in unserer Politik so viele Gefühle synthetisiert, Pathos nach Bedarf angeknipst und Coolness vorgespiegelt wird, wo doch ein karrieristischer Langweiler dahintersteckt, erscheint Selenski wie ein Held der Wirklichkeit, weil er einer ist.
  • Er setzt sein Leben aufs Spiel
  • Und das seiner Frau und seiner Kinder
  • Nicht aus Leichtsinn, sondern aus Patriotismus

Es hat etwas Altmodisches. Der Mann kämpft um sein Leben, seine Familie und sein Land – und was uns alle beschämt: Wir merken, dass diese Mode nie ausser Mode gekommen ist. Allein wir angeblich so modernen Menschen haben vergessen, worauf es schon immer ankam und weiterhin ankommt:
  • Mut
  • Treue
  • Freiheit

Selenski ist 1978 in Kryvyi Rih, einer mittelgrossen Industriestadt in der damaligen Sowjetunion, geboren worden. Sein Vater war ein brillanter Professor für Kybernetik, der an der dortigen Universität die Abteilung für Kybernetik und Computertechnik leitete, die Mutter ist eine ebenso brillante Ingenieurin, beide Eltern sind jüdisch, zuhause spricht man russisch, auch wenn die Stadt in der Ukraine liegt. Wenn man im Kommunismus von einer Karriere sprechen kann, die einem nicht allzu viele schäbige Konzessionen abverlangte, dann war eine solche wohl Selenskis Eltern gelungen: Naturwissenschaftler und Techniker erfreuten sich eines gewissen Schutzes. Man brauchte sie.
Der junge Selenski studierte Jura und schloss auch ab – doch arbeitete er nie auf diesem Beruf, sondern ihn zog es bald in die Comedy, wofür er offensichtlich viel Talent bewies. Innert weniger Jahren stieg er zu einem der bekanntesten Comedians seiner neuen Heimat auf, der Ukraine. Denn das Land, seit Jahrhunderten von den Russen beherrscht, war 1991 unabhängig geworden. Selenski, der Präsident mit russischer Muttersprache, spricht noch heute, so sagt man mir, mit einem feinen Akzent Ukrainisch.
Zum Politiker wurde er, weil er zuerst einen Politiker spielte.
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Selenski als Geschichtslehrer in der TV-Serie Diener des Volkes.
In einer satirischen Fernsehserie gab er einen liebenswürdigen, etwas naiven Geschichtslehrer, der sich über die Korruption in seinem Land aufregt. Unvorsichtigerweise tut er das auch im Klassenzimmer, wo ihn ein Schüler dabei filmt. Das Video erscheint auf Youtube und geht sogleich viral. Wenn einer je ein Amt nicht gesucht hat, dann dieser arme Geschichtslehrer, den nun Tausende von Anhängern plötzlich zu einer politischen Kandidatur drängen – wozu es kommt, und natürlich – es handelt sich ja nur um einen Film – wählt ihn das Volk auch. Er wird Präsident – wider Erwarten. Er wird zum Helden – wider Erwarten.
Die Rolle seines Lebens.
In der Regel findet zuerst die Wirklichkeit statt und dann schreibt man darüber eine Geschichte. In Selenskis Fall war es umgekehrt. Überwältigt vom Erfolg seines fiktiven Präsidenten im Fernsehen – die Serie wurde selbst in Russland zum Hit –, geriet Selenski offenbar ins Grübeln: Wenn ein Geschichtslehrer Präsident werden konnte, warum nicht auch ein Schauspieler? 2019 trat Selenski zur ukrainischen Präsidentenwahl an – und gewann.
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Die Fiktion verwandelte sich zur Realität. Dass diese Realität schliesslich bedeuten sollte, dass Selenski sein eigenes Leben einsetzen muss, um sein Präsidentenamt zu verteidigen, und das Land dazu – das hätte sich auch dieser fantasievolle Mann wohl nie träumen lassen.
In Washington sah sich Präsident Joe Biden nach der Rede sogleich gezwungen, der Ukraine mehr Hilfe zu versprechen. Ein Abgeordneter nach dem andern war vor die Kamera getreten, und an ihren Gesichtern konnte man ablesen, wie sehr Selenski sie aufgewühlt hatte.
In Berlin hintertrieb die Regierung, dass es zur Aussprache kam. Nachdem Olaf Scholz zu Anfang wie ein Kriegskanzler aufgetreten war, hat er sich seither ins Schneckenhaus zurückgezogen. Deutschland möchte partout nicht auf den Import von russischem Gas verzichten – Selenski mag das fordern, solange er will.
Stattdessen verlas die Vizepräsidentin, wer Geburtstag hatte. Wir gratulieren.
Ich wünsche Ihnen ein geruhsames Wochenende Markus Somm

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