Soll die Schweiz in die Nato? Zweiter Versuch
Die Rütliwiese am Vierwaldstättersee.
Die Fakten: Thierry Burkart (FDP) redet einer Nato-Annäherung das Wort, Konrad Hummler (FDP) spricht von einem «Zusammenarbeitsvertrag», Ignazio Cassis (FDP) gibt einen Bericht «zu einem besseren Verständnis der Neutralität im aktuellen Kontext» in Auftrag.
Warum das wichtig ist: Nimmt der Freisinn – historisch betrachtet die nationalliberale Partei schlechthin – Abschied von der Neutralität? Ankündigungen über deren vorzeitigen Tod sind wohl übertrieben.
Konrad Hummler, Verwaltungspräsident der Nebelspalter AG und damit mein Chef, hat in einem bemerkenswerten Artikel in der NZZ eine zweite sicherheitspolitische Standortbestimmung aus freisinniger Sicht vorgenommen. Der ehemalige Generalstabsoffizier der Luftwaffe stand von 2001 bis 2008 dem Armeestabsteil «Strategie» vor.
Um eine zweite handelt es sich, weil FDP-Präsident Thierry Burkart sich letzte Woche in der NZZ ebenfalls zur Zukunft der schweizerischen Armee im neuen, kriegerischen Europa geäussert hat.
- Er redete einer Annäherung an die Nato das Wort, wobei er damit explizit keinen Beitritt meinte. Ich habe ihn trotzdem kritisiert, da ich glaube, dass die bürgerlichen Parteien sich zuerst der Stärkung der Armee widmen sollten. Eine Nato-Debatte, die das bürgerliche Lager spaltet, lenkt nur ab – und spielt der Linken in die Hand, die von einer Aufrüstung nichts wissen wollen
- Auf eine ähnliche Art und Weise hilft der freisinnige Bundesrat Ignazio Cassis der Linken, indem er sich zu häufig und zu missverständlich zur Neutralität vernehmen lässt. Wenn man ihm zuhört, bekommt man den Eindruck, er verstehe darunter den Zwang, die Welt über deren Schwächen zu belehren. Er übernimmt einen aktivistischen Duktus, wie er im EDA zu lange schon verbreitet ist. Ist das wirklich seine Überzeugung?
Konrad Hummlers Beitrag lenkt zwar ebenso ab – und dennoch ist er klug und gibt zu Denken. Natürlich sage ich das nicht, weil er mein Chef ist.
Klug, weil Hummler eine nützliche Unterscheidung vorschlägt – und er sich damit bewusst zwischen Stuhl und Bank setzt, wo es bekanntlich unbequem ist, auch wenn man Recht hat. Hummler betont:
- Die Schweiz ist in Europa seit langem auf sicherheitspolitische Kooperation angewiesen – womit er sich von der allzu introvertierten SVP abhebt
- Aber eben weitaus nicht auf allen Gebieten – womit er die Internationalisten korrigiert, die es auch in der FDP gibt und die von jeglicher Art der internationalen Zusammenarbeit nie genug bekommen können
Hummler spricht von drei sicherheitspolitischen «Teilmengen»:
- Wenn es etwa um die Abwehr von Nuklearwaffen oder Langstreckenraketen geht, ist der Kleinstaat überfordert. Hier brauchen wir den Schutzschirm der Nato, was in Tat und Wahrheit ein Schutzschirm der USA darstellt, unter dem alle Europäer sich ducken
- Im Bereich der Luftwaffe ist es sinnvoll, mit den umliegenden Ländern zu kooperieren. Der Kampfjet F-35, den wir beschaffen wollen, erreicht eine Spitzengeschwindigkeit von fast 2000 km/h. Die Schweiz hat er in 10 Minuten überflogen. (St. Margrethen – Genf: 300 km)
- Schliesslich gibt es «territorial gebundene Aktivitäten, die nicht delegierbar sind»: das betrifft die konventionelle Landesverteidigung und den «Widerstand der Bevölkerung», falls das Land bes
Wo soll die Schweiz sich nun der Nato annähern – wenn überhaupt?
Was den nuklearen Schutz anbelangt, leben wir schon seit dem Zweiten Weltkrieg von der Nato, besser: den USA, ohne dass wir dafür je etwas bezahlen mussten.
Zu Zeiten des Kalten Krieges erbrachten wir allerdings wertvolle Gegenleistungen, die offiziell nie beschlossen worden waren, noch je in einem Vertrag auftauchten, und dennoch allen wichtigen Beteiligten bewusst waren:
- Wir unterhielten eine der teuersten und schlagkräftigsten Armeen der Welt, wenn man die Ausgaben pro Kopf unterstellt. Die Nato wusste das zu schätzen. Nie gab es in den Schweizer Alpen ein gefährliches, taktisches Vakuum
- Der schweizerische Finanzplatz (insbesondere das Bankgeheimnis) leistete den westlichen Geheimdiensten, vor allem der CIA, unverzichtbare Dienste, wenn es um die Finanzierung ihrer Operationen ging
- Die Schweiz unterwarf sich «freiwillig» dem sogenannten CoCom, womit die USA den Export von neuester Technologie in den kommunistischen Ostblock unterband. Das waren Wirtschaftssanktionen. Die Schweiz hielt sich nicht an ihre Neutralität
Heute, dafür plädiert auch Hummler, wäre es an der Zeit, uns der Nato wieder erkenntlich zu zeigen. Wobei Hummler zu Recht hervorhebt, wer damit in Wirklichkeit gemeint ist:
- Die Nato – nicht die Europäische Union
Die Nato wird an allererster Stelle von den USA finanziert, geprägt und geführt, die Briten spielen eine tragende Nebenrolle, durchaus zahlungskräftige Mittelmächte wir Frankreich oder vor allem Deutschland halten sich vornehm zurück. Ihr Beitrag an die europäische Sicherheit ist fast so gering wie der unsrige. Noch weniger bringt die EU zustande.
- Sie redet zwar seit Jahrzehnten über eine gemeinsame Armee
- Konkret liegt so gut wie nichts vor, stattdessen hat sich die EU darauf kapriziert, die europäischen Bürger mit einer sehr strikten Waffenregulierung zu entwaffnen
- Die EU, das Friedensprojekt, will von Krieg nichts wissen
Wenn heute über mehr Kooperation mit «unseren europäischen Partnern» gesprochen wird, was doch der Krieg in der Ukraine nahelege, dann geht es nicht um mehr Sicherheit, sondern man hat einen neuen Vorwand gefunden, warum eine politische Andockung an die EU anzustreben sei.
Niemand will unsere Armee rascher in «Europa» einbringen als Leute, die schon immer der EU beitreten wollten. Wenn man die Nato erwähnt, werden sie eigenartig kleinlaut.
Was wäre sinnvoll?
Als Gegenleistung für den Schutzschirm, den die Nato (also die USA) auch über der Schweiz aufgespannt haben, könnten wir zum Beispiel die Luftverteidigung des gesamten Alpenraumes übernehmen.
Dafür bräuchten wir aber nicht 36 neue F-35-Kampfflugzeuge, sondern vielleicht 72.
Müssen wir uns dafür der Nato anschliessen?
Sicher nicht. Ein solcher wäre nie und nimmer mehrheitsfähig.
Vielmehr handelte es sich um ein jederzeit kündbares Mandat. Wir würden sozusagen als Selbstständige für die Nato im Mandatsverhältnis eine militärische Dienstleistung offerieren.
Hummler spricht von einem «Zusammenarbeitsvertrag».
Gewiss, unsere traditionelle Auffassung von Neutralität würde damit strapaziert, aber das kennen wir schon. Aus dem Kalten Krieg.
Oder wie es John Maynard Keynes, der berühmte britische Ökonom, einmal gesagt haben soll:
«Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was tun Sie?»
Ich wünsche Ihnen frohe Ostern. Das nächste Memo erscheint am Dienstag danach
Markus Somm