Somms Memo
Schreiendes Unrecht. Warum werden in der Schweiz Vergewaltiger so mild bestraft?
5400 für eine Vergewaltigung? Geht es nach dem Ständerat, bleibt das denkbar.
Die Fakten: Das Sexualstrafrecht soll revidiert werden. Nach dem Ständerat befasst sich heute der Nationalrat damit. Vorgesehen sind auch Geldstrafen.
Warum das wichtig ist: Wer liegt uns näher, das Opfer eines Sexualverbrechens, das oft ein Leben lang gezeichnet bleibt, oder der Täter? Die Strafen sind zu milde.
An einer Chilbi im Gaster lernte ein 15-jähriges Mädchen vor gut drei Jahren einen 43-jährigen Mann kennen, der dort einen Stand betrieb. Es war schon spät geworden, Mitternacht vorüber, und der Mann machte sich ans Aufräumen. Warum nicht das junge Mädchen fragen, das gerade vorbeikam und nach Hause strebte, ob es ihm helfe?
- Natürlich half es – aus «Höflichkeit», wie es später sagte
- Und man kam ins Gespräch, man redete über Musik und Schmuck und so weiter
Dann, so berichtet die Anklageschrift, öffneten sich die Tore zur Hölle:
«Während des Gesprächs begann der Beschuldigte, die Privatklägerin mit der Hand am Knie zu berühren. Da die Privatklägerin dies als unangenehm empfand, nahm sie seine Hand und drückte sie weg. Der Beschuldigte ignorierte diese Reaktion und legte seine Hand erneut auf den Oberschenkel der Privatklägerin».
Aus den Berührungen ergab sich eine Massage, aus der Massage wurde Sex. Drei Stunden lang verging sich der fast 30 Jahre ältere Mann am 15-jährigen Mädchen, oral, anal und vaginal, ohne dabei zu bemerken, wie er vor Gericht beteuerte, dass das Mädchen keinen Sex gewünscht hatte.
Dass es ihm das sagte – er will es nicht gehört haben. Dass das Mädchen Schmerzen erlitt und ihn bat, aufzuhören – er nahm es nicht wahr. Dass es dem Mädchen nicht gefiel – er stritt es ab. «Ich habe sie immer wieder gefragt, ob sie es schön finde». Und sie habe Ja gesagt. Drei Stunden lang.
Das Kreisgericht See-Gaster glaubte ihm kein Wort und verurteilte ihn im Jahr 2020 wegen sexueller Handlung mit Kindern, mehrfacher sexueller Nötigung (Anal- und Oralverkehr, sowie Zungenküsse) und Vergewaltigung (Vaginalverkehr). Zu den Strafen kam ein (obligatorisches) lebenslängliches Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen gemäss Art. 67 des Strafgesetzbuches (StGB) hinzu.
- Der Mann sass für dieses Verbrechen keinen einzigen Tag im Gefängnis
- Denn er hatte eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten erhalten. Bedingt heisst: Man kommt nur ins Gefängnis, wenn man so ungeschickt ist und wieder straffällig wird
- Im Übrigen musste er dem Mädchen 18 000 Franken «Genugtuung» bezahlen
Wird dieses Mädchen sich je wieder einem Mann anvertrauen? Mit ihm schlafen, ihn küssen, ihn lieben? Ich weiss es nicht. Ich stelle es mir schwierig vor. Während der Täter frei herumläuft – und sich vielleicht sagt: Dumm gelaufen.
18 000 Franken. Und keinen Tag im Gefängnis.
Was diesem Mädchen in der Ostschweiz widerfuhr, ist kein Einzelfall. Zwar werden in der Schweiz jedes Jahr Männer – es sind fast immer Männer – wegen Vergewaltigung verurteilt, aber gut ein Viertel von ihnen muss nie ins Gefängnis. Ich wiederhole: Nie.
Das liegt am Gesetz, insbesondere, was die Möglichkeit des bedingten Strafvollzugs betrifft, das liegt aber auch an unseren Richtern und Richterinnen, die eine unverständliche Milde walten lassen, wenn es um die schlimmsten Verbrechen geht, die man sich ausmalen kann.
Nur Tötungen, Morde, so meine Auffassung, mit der ich wohl nicht alleine stehe, sind schlimmer.
Zum Gesetz:
- Grundsätzlich erhält jeder Verurteilte eine bedingte Strafe, wenn diese unter 2 Jahren liegt, und er sich zum ersten Mal etwas zuschulden hat kommen lassen (Art. 42, StGB). Laut Bundesrat kam das im Jahr 2015 in 27 Prozent der Verurteilungen wegen Vergewaltigung zum Tragen. Die Täter mussten nie hinter Gitter. Das gilt grob auch für alle übrigen Jahre
- Dauert die Strafe zwischen zwei und drei Jahren, hat der Täter Aussicht auf einen teilbedingten Vollzug, das heisst, er muss bloss die Hälfte der Strafe absitzen
- Rund 25 Prozent der Männer, die in den vergangenen Jahren wegen Vergewaltigung verurteilt wurden, bekamen deshalb eine teilbedingte Strafe
Mit anderen Worten, die Hälfte der Vergewaltiger kommt mit weniger als drei Jahren Strafe weg – und ein Viertel von ihnen sieht nie eine Gefängniszelle von innen.
Zwei, drei lästige Jahre muss sich der Täter zusammennehmen. Ein ganzes Leben darf das Opfer dafür büssen, dass es vergewaltigt worden ist.
Zu den Richtern:
Dass das so häufig der Fall ist, dafür sind indessen – wie erwähnt – die Richter verantwortlich. Es stünde ihnen frei, härtere, will sagen: längere Strafen zu verhängen. Gemäss geltendem Recht kann Vergewaltigung mit bis zu zehn Jahren bestraft werden. Würden die Richter so gut wie immer Strafen über zwei Jahren aussprechen, käme jeder Vergewaltiger für eine gewisse Zeit ins Gefängnis.
Zwei Jahre (und einen Tag).
Aus meiner Sicht – und vermutlich aus Sicht sehr vieler Schweizerinnen und Schweizer – eine angemessene Sanktion für ein so folgenreiches, grauenhaftes Verbrechen.
Heute will der Nationalrat das Sexualstrafrecht revidieren. Schon vorher hat der Ständerat die Vorlage behandelt.
Von Verschärfungen des Strafregimes ist allerdings keine Rede. Im Gegenteil
- Zwar soll Vergewaltigung auch auf jene Übergriffe ausgedehnt werden, wo das Opfer nicht zum Beischlaf genötigt wird, aber dennoch klar gemacht hat, dass es dies nicht wünscht: Das ist richtig, das ist ein Fortschritt
- Gleichzeitig werden bedingte oder teilbedingte Strafen aber nicht unterbunden – was ein Leichtes wäre, indem man entsprechende Mindeststrafen einführte (zwei oder drei Jahre)
- Überdies hält der Ständerat daran fest, dass für diverse Sexualdelikte Geldstrafen möglich bleiben – so auch für Vergewaltigung, sofern das Opfer nicht dazu genötigt wurde
Geldstrafen?
Wer vergewaltigt, das Opfer jedoch nicht dazu zwingt (mit Drohungen oder mit einer Waffe), sondern schlicht ein Nein übergeht, kann eine Geldstrafe von maximal 180 Tagessätzen erhalten (was theoretisch einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten entspricht.)
Der tiefste Tagessatz beträgt 30 Franken (das hängt vom Einkommen ab). Das heisst: In der Schweiz kann jemand vergewaltigen und muss dafür 5400 Franken zahlen. Dann ist die Sache erledigt.
5400 Franken für eine Vergewaltigung.
Das hat der Ständerat beschlossen. Immerhin will eine Mehrheit der vorberatenden Kommission des Nationalrats wenigstens für die Vergewaltigung eine Geldstrafe ausschliessen. Dennoch bleibt die Geldstrafe im Spiel für diverse sexuelle Verbrechen:
- Sexuelle Handlungen mit Abhängigen
- Sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung (das umfasst alles ausser «Beischlaf oder einer beischlafsähnlichen Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist», und zwar auch Handlungen, zu denen das Opfer mit Gewalt oder Drohung genötigt wird)
- Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person
Das ist der Zustand der Gerechtigkeit in der Schweiz im Jahre 2022. In den meisten Fällen sind die Opfer Frauen und Mädchen.
Ist es nicht grotesk?
Was reden wir davon, die Frauen gleich zu stellen? Es wird nach einer Gender-Sprache verlangt, um Frauen angeblich besser abzubilden, es werden Quoten durchgesetzt und eine Kinderkrippenindustrie aufgebaut, es werden Strassen umbenannt, es wird alles getan, um das Patriarchat zu überwinden,
- aber wenn es darum geht, jene Männer richtig zu bestrafen, die Frauen ungefragt berühren, plagen, belästigen, zu Sex nötigen oder vergewaltigen
- dann bricht das grosse Mitleid aus. Mitleid mit den Tätern
Ist es nicht verlogen?
Gerade die Linke, die nun fordert, dass jeder Sex mit einer expliziten Zustimmung beginnt, würde sich vielleicht besser auf den Strafvollzug konzentrieren.
Von Mindeststrafen wollte aber die Linke nichts wissen. Ebenso viele Bürgerliche aus FDP und der Mitte nicht.
Ich wiederhole die Eckpunkte des schreienden Unrechts:
- Wer vergewaltigt, kommt nur vielleicht ins Gefängnis: ein Viertel der Täter nie, ein Viertel sitzt die Hälfte der Strafzeit ab (höchstens anderthalb Jahre)
- Und selbst jene Täter, die eine unbedingte Strafe antreten, sehen in der Regel bald wieder die Freiheit
- Zwischen 2008 und 2019 wurden 419 Vergewaltiger aus dem Vollzug nach ihrer unbedingten Freiheitsstrafe entlassen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Gefängnis betrug 1031 Tage, das sind rund 2,9 Jahre
Drei Jahre sind kein Leben.
Während das 15-jährige Mädchen im Gaster ihr Leben vielleicht nie mehr wiederfindet.
Aristoteles, der grosse griechische Philosoph, sagte:
«Im besten Fall ist der Mensch das edelste aller Tiere; getrennt von Gesetz und Gerechtigkeit ist er das Schlimmste.»
Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Wochenanfang
Markus Somm