Somms Memo
Putin eskaliert seinen Krieg. Will er den Dritten Weltkrieg?
Kiew nach den jüngsten Angriffen der Russen am Montag.
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Die Fakten: Russland hat diverse Städte in der Ukraine bombardiert. Man vergelte damit die Zerstörung der Krim-Brücke, sagt Wladimir Putin.
Warum das wichtig ist: Russland eskaliert den Krieg – ob aus Verzweiflung oder Kalkül ist offen. Endspiel oder strategischer Neubeginn?
Am Tag 230 der russischen Invasion der Ukraine sieht die Lage folgendermassen aus:
- Russland hat am Montag mit Dutzenden von Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen verschiedene ukrainische Städte angegriffen, unter anderem Kiew und Lemberg, das weit im Westen liegt. Die ukrainischen Behörden melden zur Stunde 19 Tote und über 100 Verwundete – die meisten sind Zivilisten
- Man darf die breit angelegte und gut organisierte Attacke als eine Art Premiere des neuen Oberkommandierenden aller russischen Streitkräfte in der Ukraine ansehen. Sergei Surowikin, ein General, der im Ruf steht, brutal, aber effektiv vorzugehen, war erst am letzten Samstag in diese Position befördert worden
- Surowikin soll gemäss Erkenntnissen des britischen Verteidigungsministeriums ein Machtvakuum füllen. Bisher gab es kein eigentliches Oberkommando der russischen Invasionstruppen. Vielmehr herrschte Chaos und Kompetenzgerangel zwischen verschiedenen Faktionen und Generälen
Militärisch hat die Angriffswelle wenig bewirkt, die Russen befinden sich nach wie vor im Donbas und im Süden in der Defensive. Psychologisch dürften der russische Präsident Wladimir Putin und seine militärische Führungsspitze allerdings ihr Ziel erreicht haben
- Seit Monaten, so schien es, befanden sich ukrainische Zivilisten nicht mehr in Gefahr, es sei denn sie wohnten in der Nähe der Kampfhandlungen im Südosten des Landes. Jetzt muss sich von neuem jedermann in Acht nehmen – ob in Kiew, Lemberg oder Schitomir. Die Russen, das haben sie bewiesen, sind nach wie vor in der Lage, jedes Ziel in der Ukraine zu treffen
- Putin, so hört man aus westlichen Geheimdienstkreisen, sah sich intern zunehmend unter Druck, mehr Härte zu zeigen. Der Krieg läuft miserabel für die Russen. Mit der Promotion von Surowikin und dessen erstem, blutigen Gesellenstück hat sich Putin etwas entlastet
- Man habe damit «Vergeltung» geübt für die Zerstörung der Krim-Brücke, sagte Putin am Montag. Sie war vor kurzem durch einen Anschlag schwer beschädigt worden. Wer dafür verantwortlich ist, bleibt offen. Putin sprach von einem «Terrorakt» der Ukrainer, den man nicht dulden könne. Damit gab er wohl die Meinung der meisten Russen wieder
Wladimir Putin, russischer Präsident. Hang zum Dämonischen.
Starke Gefühle sind im Spiel. Die Brücke über die Strasse von Kertsch verbindet die Krim mit dem russischen Festland. Mit 19 km ist sie die längste Brücke Europas – ein Monument der russischen Heimholung der Krim, ein Bau des russischen Imperialismus, den Putin 2018 höchstpersönlich eingeweiht hat. Die Brücke ist für Autos und die Bahn bestimmt.
Wenn Putin jetzt von einem «Terrorakt» spricht, dann muss man sagen: Der Mann hat Chuzpe. Ein Terrorakt ist der Krieg, den er seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt.
Putin scheint bereit, den Krieg zu eskalieren, wobei das Symbolische, das Dämonische überwiegt:
- 19 tote Zivilisten machen die bedeutenden Rückschläge nicht ungeschehen, die seine Truppen in den vergangenen Wochen erlitten haben. Gewiss, er verbreitet Angst und Schrecken, aber so gehen Terroristen vor – nicht Kriegsherren und «Retter des Vaterlandes», als was er sich wahrscheinlich sehen möchte
- Wenn er zugleich ständig mit nuklearen Waffen herumfuchtelt, dann passt das ins Bild eines eher verzweifelten, denn selbstsicheren Strategen. Er erinnert an einen Hund, der bellt, aber sich nicht traut, zuzubeissen. Knurrende Hunde sind gefährlicher. Das Knurren hat Putin verlernt. Er redet zu viel
Dennoch ist nie auszuschliessen, dass der russische Präsident tatsächlich eine Atombombe einsetzt – sie mag noch so klein, also «taktischer Natur» sein.
Was haben wir uns bisher in ihm getäuscht, in der Meinung, es handle sich um einen klugen, vorsichtigen, wenn auch kaltblütigen Politiker?
- Das bleibt er. Und gerade deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass er die atomare Eskalation wagt
- Denn die Amerikaner, so sagt es der ehemalige Vier-Sterne-General und CIA-Direktor David Petraeus, haben Putin im Detail mitgeteilt, wie sie darauf reagieren würden. Natürlich habe er nicht mit Jake Sullivan, dem nationalen Sicherheitsberater, gesprochen, der offenbar für den Draht nach Moskau zuständig ist, sagte Petraeus auf ABC, einem amerikanischen Fernsehsender. Trotzdem darf man davon ausgehen, dass Petraeus mehr oder weniger im Bild ist:
- «Die USA und ihre Verbündeten würden alle konventionellen Truppen der Russen, die sich in der Ukraine aufhalten, vernichten. Ausserdem würden wir die gesamte Schwarzmeerflotte versenken.»
David Petraeus, General der US Army, diente von Oktober 2008 bis Juni 2010 als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Irak und in Afghanistan (US Central Command).
Mit anderen Worten, die Amerikaner wären zwar nicht gerade bereit, den Dritten Weltkrieg auszulösen, indem sie selber eine Atombombe zündeten, doch bewegten sie sich mit Siebenmeilenstiefeln darauf zu.
Oder um es mit einer Losung der 80er-Bewegung zu sagen, die man damals auf jede Wand gesprayt hat, die sich anbot:
«Gestern standen wir noch vor einem grossen Abgrund. Heute sind wir einen Schritt weiter.»
Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag
Markus Somm