Somms Memo
Putin am Ende? Eine Analyse der jüngsten Revolution in Russland
Jewgeni Prigoschin, militärischer Spinner oder Prophet des Untergangs? (Bild: Keystone)
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Die Fakten: Jewgeni Prigoschin und seine Gruppe Wagner haben am Samstag einen Putsch gegen Wladimir Putin versucht – und abgebrochen.
Warum das wichtig ist: Dass es so weit kam, muss Putin beunruhigen. Die meisten Revolten in der russischen Geschichte führten das Ende des Regimes herbei.
Zwei Tage nach dem Aufstand in Russland – als es für kurze Zeit denkbar schien, dass das Land sich bald in einem Bürgerkrieg zerfleischen würde – bleibt die Lage unübersichtlich:
- Wer hat nun gewonnen? Putin oder Prigoschin?
- Was war das? Ein Spuk, der vorbei ist, nachdem das Gespenst Prigoschin sich verzogen hat,
- Oder erleben wir den Anfang des Niedergangs von Putin?
Um diese Fragen zu beantworten, versetze ich mich in die Lage von Putin.
Was spricht dafür, dass er den Coup überstanden hat, was dagegen? Eine vorläufige Bilanz.
Zuerst die Good News:
1. Offensichtlich ist der Coup gescheitert. Zwar rückten die Wagner-Truppen am Samstag bis auf 200 km an Moskau heran, dann brach Prigoschin jedoch den Vormarsch ab. Warum, ist unklar. Offiziell heisst es, der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko habe ein Abkommen vermittelt: Putin sicherte Prigoschin zu, ihn nicht wegen Hochverrats anklagen zu lassen, Prigoschin gab im Gegenzug auf. Er soll nach Weissrussland ins Exil gehen.
2. Was zu schön klingt, um wahr zu sein, ist wohl auch nicht die ganze Wahrheit: Gemäss britischen Geheimdienstberichten wurden führende Offiziere der Wagner-Truppen unter Druck gesetzt, darunter vermutlich auch Prigoschin: Die russischen Sicherheitsbehörden drohten damit, deren Familienmitglieder zu verhaften und zu drangsalieren – was immer das in Russland bedeutet, Prigoschin konnte sich das Nötige ausmalen.
Das zeigt, dass Putins Sicherheitsapparat intakt ist. Drohung, Erpressung, Verfolgung: Alle Instrumente sind jederzeit einsetzbar.
3. Vor allem blieb Prigoschin isoliert. Kein bekannter General, keine reguläre Einheit schlug sich auf die Seite der Rebellen. Wenn Prigoschin gehofft haben sollte, die Armee zu spalten, dann ist dies vollständig missraten. Auch unter den zivilen Eliten fand er keinerlei Unterstützung. So gesehen kann sich Putin zurücklehnen – an seiner Herrschaft wurde gerüttelt, doch sie kam nichts ins Wanken.
Der Zar wurde herausgefordert, der Zar sitzt weiterhin auf dem Thron.
Und doch überwiegen die Bad News:
1. Als die Wagner-Truppen zuerst die Millionenstadt Rostow am Don besetzten, gelang ihnen das, als wären sie auf Befehl Putins einmarschiert: Kein Widerstand, kein Schuss, kein böses Wort. Ebenso fuhren sie kurz darauf mit ihren Panzern und Lastwagen fast unbehelligt nach Moskau, als hätten sie sich zu einem verspäteten Defilee aufgemacht – kaum jemand griff ein, stattdessen schossen die Wagnerianer russische Kampfhelikopter und ein Flugzeug ab. Dabei töteten sie 13 Soldaten.
Der Aufstand verlief so manierlich – dass da und dort im Westen gar der Verdacht aufkam, es handelte sich um eine besonders durchtriebene Inszenierung – die Putin selbst vorgenommen hatte, um nachher als Sieger vom Platz zu gehen. Wer weiss? Mein Eindruck: Zu durchtrieben, wie schon so oft wird Putin überschätzt.
Vielmehr – und das muss Putin zu denken geben – warteten wohl die meisten Generäle und reguläre Truppen einfach ab, in der Hoffnung, sich nicht zu früh festzulegen. Was, wenn Prigoschin in Moskau reüssierte? Mit anderen Worten: Zwar wechselte niemand auf die Seite der Troublemaker aber es zog auch niemand für das Regime in den Kampf.
2. Dass Putin sich auf seinen Assistenten Lukaschenko verlassen musste, um die Krise zu entschärfen, hat etwas Demütigendes, Verheerendes. Ist er nicht mehr selbst in der Lage, sein Haus in Ordnung zu bringen? Lukaschenko ist ein Vasall im Reiche Putins. Wenn die Vasallen dem Zaren beispringen, dann wirkt der Zar schwach, wenn nicht verzweifelt.
Macht ergibt sich auch aus der Perzeption: Wer Macht besitzt, besitzt sie, weil alle andern davon ausgehen, dass man sie besitzt. Lässt man dies auch nur eine Sekunde ausser Acht, reicht das oft, um das Geheimnis der Machtfür immer zu lüften. Als ob ein kleines Mädchen auf Putin gezeigt und gerufen hätte: «Der Kaiser ist nackt!»
Zur Stunde scheint es unwahrscheinlich, dass Putin sich von dieser Entlarvung rasch erholt, wenn überhaupt, zumal er den Aufstand nicht niedergeschlagen und die Verantwortlichen nach Sibirien verbannt oder hingerichtet hat, wie das in Russland immer üblich war. Er ist Sieger, aber ein halbbatziger.
Stalin, sein Vorbild, hätte längst Massenverhaftungen angeordnet.
3. Glaubt man westlichen Geheimdiensten, wussten Putins Sicherheitsleute schon Wochen zuvor, dass Prigoschin eine Rebellion plante, dennoch griff Putin nicht ein – aus Angst, so die Vermutung, damit die nationalistischen Hardliner in Russland vor den Kopf zu stossen, bei denen sich Prigoschin, ein militärischer Metzgermeister, ungebrochener Popularität erfreute.
Trifft das zu, ist Putin eine Fehlbeurteilung unterlaufen, die seinen Ruf als Machttechniker schwer beeinträchtigen dürfte. Eine Meuterei spricht nie für den Kapitän – selbst, wenn er es fertigbringt, dass die Meuterer das Schiff im Rettungsboot verlassen.
Als sich Putin am Samstag an sein Volk wandte, verglich er Prigoschins Aufstand mit dem Jahr 1917, also den Ereignissen vor der Russischen Revolution – wobei er sich offensichtlich mit dem Zaren identifizierte. Allein dieser Vergleich muss den Russen merkwürdig vorgekommen sein.
Denn 1917 verlor der Zar – und dankte bald ab.
Ich wünsche Ihnen einen erfreulichen Wochenbeginn
Markus Somm