Grosses Interview zum Fachkräftemangel
Professor Eichenberger: «Wer den Einkommensbegriff nur aufs Geld verengt, ist geldgeil»
Geht es nach dem Ökonomen Reiner Eichenberger, sollen hohe Arbeitspensen belohnt werden. Bild: zvg
Mitarbeit: Camille Lothe
Der Fachkräftemangel ist in aller Munde: «Schon jetzt bleiben rund 120'000 Stellen unbesetzt», schlug der Arbeitgeberverband Alarm. Der Fachkräftemangel habe sich zum grössten Bremsklotz für die Schweizer Wirtschaft entwickelt, so der Dachverband. Besserung ist nicht in Sicht: Gemäss Prognosen vervielfacht sich die Anzahl vakanter Stellen in den nächsten Jahren. Ökonomen, Journalisten und Politiker streiten sich darüber, wie es dazu kommen konnte.
Für den «Nebelspalter» Grund genug, um mit dem renommierten Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger über Ursachen (Teil 1) und Lösungen der herrschenden Arbeitnehmerknappheit zu diskutieren. Das Interview erscheint in zwei Teilen.
Herr Eichenberger, wie bringen wir Menschen dazu, wieder mehr zu arbeiten?
Reiner Eichenberger: Wir müssen die Steuerbelastung auf das Einkommen senken. Das sehen viele Ökonomen ein. Sie schlagen dann jeweils vor, eine Einkommensteuer mit nur einem konstanten Steuersatz und einem grossen Grundabzug einzuführen. Das hätte gleich mehrere negative Folgen.
Das ist wichtig:
- Reiner Eichenberger schlägt Steuerabzüge für zusätzliche Arbeitsstunden vor
- Das heutige System zur Flexibilisierung des Rentenalters funktioniere nicht. So gehe viel Arbeitspotenzial verloren.
- Personen, die über ihr 65. Lebensjahr hinaus arbeiten, sollen einen Abschlag auf ihre AHV- und Rentenbeiträge erhalten.
Welche?
Profitieren würden vor allem Menschen mit hohen Kapitaleinkommen sowie einem hohen Arbeitseinkommen mit hohen Stundenlöhnen. Zweitens würden mit dem hohen Grundabzug die Leute mit niedrigem Einkommen gar keine Steuern mehr zahlen. Das ist herzig, aber politisch katastrophal. Demokratie funktioniert nur, wenn die Stimmbürger die Kosten ihrer Entscheide mittragen müssen. Drittens würde die Grenzsteuerbelastung für den Mittelstand steigen. Wenn hohe und niedrige Einkommen weniger zahlen, muss der Mittelstand mehr zahlen.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ganz einfach: Wir sollten die hohen Arbeitspensen nicht mehr systematisch steuerlich behindern. Gemeinsam mit Patricia Schafer habe ich ein ganz einfaches Konzept ausgearbeitet: Ein Steuerabzug für Vielarbeit. Für jede Arbeitsstunde, die ein Arbeitnehmer über eine Referenzarbeitszeit, zum Beispiel ein 80 Prozent-Pensum, hinaus leistet, soll er einen Steuerabzug machen dürfen. Als angemessene Höhe für den Abzug sehen wir etwa 40 Franken pro Stunde.
Was sind die Vorteile?
Das ist einfach umzusetzen und hätte gleich mehrere Vorteile: Die Steuerbelastung für Vielarbeit würde stark sinken. Besonders für Leute mit tiefem Einkommen würde die Steuerbelastung sinken. Wer 40 Franken pro Stunde verdient, zahlt für zusätzliche Arbeitsstunden über 80 Prozent keine Steuern. Wer hingegen 100 Franken verdient, zahlt auf die verbleibenden 60 Franken immer noch Steuern. Wir sind überzeugt: Damit würden die Anreize, mehr zu arbeiten, massiv gestärkt.
Aber widerspricht Ihr Vorschlag nicht der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit?
Nein, es huldigt ihr. Heute zahlen Personen, die gleich viel verdienen, aber ganz unterschiedlich lange arbeiten, gleich hohe Steuern, obschon sie ganz ungleich viel Zeit für anderes übrig haben. Wir finden das eine stossende Ungerechtigkeit, die auch gegen das Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verstösst.
Begründen Sie...
Leute, die geringe Arbeitspensen haben, könnten ja auch mehr arbeiten. Sie wären also durchaus leistungsfähig. Oder anders gesagt: Sie haben ein hohes Einkommen, nur eben nicht in Geld, sondern durch die kluge Nutzung ihrer Freizeit. Wer den Einkommensbegriff nur aufs Geld verengt, ist «geldgeil». Leider ist dies in der Politik aber weit verbreitet. Viele Politiker zielen bei der Frage der Einkommensschere nur aufs Geld, statt auch die «Zeitschere» zu berücksichtigen. Heute arbeiten die Gutverdienenden wohl eher mehr als früher, die schlecht Verdienenden aber wohl weniger.
Müssen im Gegenzug die Abgaben auf Kapital erhöht werden?
Nein, das Kapital ist in der Schweiz bereits heute viel zu stark besteuert. Denn heute werden die nominellen, durch die Inflation aufgeblähten Kapitalerträge statt der realen Erträge besteuert. Aber das ist eine andere Sache und verlangt ebenfalls andere Massnahmen als die Flat Tax.
Gibt es bei Rentnern Potenzial?
Ja. Wir werden immer älter und im Alter fitter, trotzdem arbeiten wir kaum länger. Eine immer grösser werdende Zahl von Konsumenten steht einer schwindenden Anzahl Produzenten gegenüber. Das kann nicht aufgehen. Viele ältere Menschen würden gerne mehr arbeiten. Doch das heutige System zur Flexibilisierung des Rentenalters funktioniert nicht. So geht wiederum viel Arbeitspotenzial verloren.
Warum arbeiten nicht einfach die fitten und motivierten Rentner ein paar Jahre länger?
Der heute gebräuchliche Mechanismus zur Flexibilisierung des Rentenalters erlaubt es den Alten zwar, den Rentenbezug zugunsten einer höheren späteren Rente aufzuschieben. Doch das nutzt vielen wenig bis nichts: Gewinn bringt dieser Deal nämlich erst, wenn sie 86 werden.
Was müsste sich ändern?
Wir schlagen vor, dass Arbeitnehmer, die sich für eine Rente erst ab 67 entscheiden, ab dem Zeitpunkt ihres Entscheids einen Abschlag auf ihre AHV- und Rentenbeiträge erhalten – bei gleichbleibender Rente.
Ich könnte mich also mit 30 entscheiden, bis 67 zu arbeiten und muss fortan keine AHV mehr bezahlen?
Nein, nein. Der Abschlag soll versicherungsmathematisch fair sein. Je länger der Aufschub ist, desto höher fällt der Abschlag aus. Und je früher er angekündigt wird, desto kleiner kann er sein, da man dann ja länger von ihm profitieren kann. Wer sich mit 25 Jahren dafür entscheidet, zwei Jahre später in Rente zu gehen, könnte gemäss unseren Berechnungen einen Rabatt von etwa 28 Prozent auf den Arbeitnehmerbeitrag erhalten. Wer sich mit 55 für Rente ab 67 entscheidet, dem könnten seine weiteren Beiträge erlassen werden.
Aber was ist, wenn die Person aus dem Beispiel mit 47 invalid wird?
Dann macht sie eine Frühpensionierung gegenüber dem 67. statt dem 65. Altersjahr. Der Arbeitnehmer trägt die Verantwortung für seinen Entscheid.
Was ist mit denjenigen, die über das 67. Altersjahr hinaus arbeiten wollen?
Ihr Arbeitseinkommen soll nur noch zur Hälfte besteuert werden. Damit würde die bestehende Arbeitsbremse aufgehoben: Heute wird das Arbeitseinkommen zur Rente addiert. Das steigert auf dem Papier das Gesamteinkommen der Rentner. Sie geraten massiv in die Steuerprogression. Die Konsequenz ist eine sehr hohe Steuerbelastung auf das gesamte Arbeitseinkommen, nicht nur auf den letzten Franken. Schon bei einem mittleren Lohn (Medianlohn) gingen durch Steuern und AHV-Beiträge 40 und mehr Prozent ihrer gesamten Arbeitsleistung an den Staat.
Viele Rentner sind fit und könnten länger Arbeiten. Bild: Keystone
Warum muss bei den Alten angesetzt werden?
Weil viele Rentner einerseits gerne länger arbeiten möchten, aber mit der Rente eine gute und sozial anerkannte Alternative zur Arbeit haben, reagieren sie stärker als Junge auf die Steuern. Wenn Sie länger arbeiten sollen, muss es sich lohnen. Unter den vorgeschlagenen Bedingungen würden viele ältere Personen freiwillig wesentlich mehr als heute arbeiten und so insgesamt weit mehr Einkommens-, Vermögens- und Mehrwertsteuern zahlen als bisher. Dabei ist aber auch wichtig, dass die Mehreinnahmen allen zugutekommen.
Wie soll das gehen?
Diese Mehreinnahmen sollen nicht in die allgemeine Staatskasse, sondern gezielt in die Altersvorsorge fliessen. Damit würden die Gelder allen nützen. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass dieses Konzept unsere Probleme lösen kann.
Zur Person:
Der Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger (61) ist ordentlicher Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg. Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für Finanz und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg inne.
Zudem ist der Ökonom auch Forschungsdirektor des renommierten privaten Forschungsinstituts Crema, welches seine Hauptniederlassung in Zürich hat. Eichenberger ist verheiratet und hat mit seiner Frau zwei Töchter. Die Familie lebt am Zürichsee.