Ostschweizer Dialekt des Grauens? Ein Ossi wehrt sich
24. April 2023 um 07:00
Clemens Ottawa
Östliche Landesteile haben’s schwer: Die Franzosen spotten über die Sch’tis aus der Picardie, die Deutschen über die Ostdeutschen. Und wer in Londons East End wohnt, wird bemitleidet. Darum ist es vielleicht kein Wunder, wenn auch die Schweizer ihre östlichen Miteidgenossen mit wenig schmeichelhaften Attributen versehen: Als «Dialekt des Grauens» bezeichnete der ‹Tages-Anzeiger› kürzlich den Thurgauerdialekt. Ostschweizer Dialekte rangieren auf der Beliebtheitsskala regelmässig auf den letzten Rängen. Warum eigentlich? Zeit für die Konterattacke eines schweizerischen Ossis!
Wahrscheinlich müsste man ja froh sein, wenn die grossen wichtigen Medien aus dem grossen wichtigen Zürich die Region östlich von Winterthur überhaupt wieder einmal wahrnehmen. Wie alle urbanen Metropolitanbewohner befinden sie es allerdings nicht für nötig, dazu den Allerwertesten aus ihrem Grossraumbüro wegzubewegen. Was dazu führt, dass es immer wieder die gleichen (Vor-) Urteile sind, die da regelmässig aufgewärmt werden. Womit auch sichergestellt ist, dass die Beliebtheits- Rankings sich weiterhin brav nach den veröffentlichten Vor-Urteilen richten.
Denn beliebt ist vor allem, was man kennt: Ferienregionen, alpine Gegenden und urbane Zentren und – oh Wunder – die Herkunftsregionen unserer Medien, beziehungsweise der darin auftretenden Personen: Zürich, Bern, Basel. Unbeliebt sind Regionen abseits der Zentren, je östlicher, desto unbeliebter. Ähnlich den Ossis in Deutschland. Zwar sind bei uns die Vokale heller, das R – wie im Hochdeutschen – nicht gerollt, sondern weiter hinten («Zäpfchen-R») und oft fast gar nicht mehr artikuliert («Thuogau», «Vo (r) tritt», «Heabst» für Herbst). Ähnlich wie bei den Innerrhodern, die das R oft schon gar nicht aussprechen («Jo geen» für «Ja gerne»).
Wer diese Wortbeispiele nachzusprechen versucht, wird feststellen, dass er (oder sie) schon fast automatisch Hochdeutsch spricht. Besser als jeder Zürcher oder gar Berner. Und mit den hellen Vokalen gegenüber den dumpfen Tönen aus dem westlicheren Mittelland auch bei den italienisch- und französischsprachigen Miteidgenossen punktet. Eigentlich müsste man also westlich von Winterthur ausrufen: Ex oriente lux! Zu Deutsch: Aus dem Osten kommt das Licht, die Erleuchtung! Aber da müsste man natürlich etwas mehr wissen als die Schreibtisch-Linguisten der Zürcher Medien. Im Thurgau würde man sie «Laamsüüder» nennen, geistig etwas langsame Zeitgenossen.
Denn die Ostschweiz liegt ja mitnichten an der Peripherie des Kontinents. Sondern in dessen exaktem Zentrum Europas! Der geschichtsgesättigte Bodenseeraum ist das kulturelle und sprachliche Scharnier zwischen der hochalemannisch-alpinen Schweiz, Deutschland und Österreich. Und wohin gehen die Bewohner des Seerückens und des Bodenseeufers, wenn sie sagen, sie gehen in die Stadt? Nach Konstanz natürlich! Wie jene vom anderen Seeufer übrigens auch.
Sogar Zürcher werden in Konstanz gesichtet. Viele von ihnen haben’s nicht weit nach Hause: Sie haben schon längst die Vorzüge des Wohnens im idyllischen Thurgau entdeckt. Und wir Ossis dulden sie ja bei uns ohne Murren – trotz ihres scheusslichen Dialekts.