Printausgabe
Optometrischer Gruppensex
Bis zu jenem Moment war es eine ganz normale Tischrunde, die sich von ähnlichen Zusammenkünften nicht unterschied, zu der wir uns hin und wieder zusammenfinden. Wir, eine ziemlich muntere Truppe von Geniessern, schon deutlich in der zweiten Lebenshälfte: Ein spritziger Apéro, feine Gerichte und entsprechende Weine gehören dazu, aber auch lebhafte Gespräche. Schliesslich kennen wir uns schon seit Jahrzehnten.
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März-Ausgabe 2023:
Aber dann geschah es: Jürg, der Gastgeber, hatte seine Brille abgelegt. Und flugs hatte Tischnachbarin Nina die Augengläser auf der Nase. «Dass du damit etwas siehst», rief sie aus. Nun gut, sie ist die Einzige in der Runde, die erst eine Lesebrille benötigt. Aber damit nicht genug: Nun wollte sie auch die Schärfe der übrigen Tischgenossen testen. Also die Schärfe der Gläser. Die, wie im richtigen Leben, natürlich höchst unterschiedlich ist.
Und so begann eine wahre Gruppensex-Party. Na ja, zumindest eine optometrische, zu Deutsch etwa: gesichtssinnliche. Meine Gefährtin, immer für eine Abwechslung zu haben, entpuppte sich als wahre Brillenschlange. Hatte im Nu meine Gesichtsverglasung auf ihrer Nase. Wobei sie weniger meine Seh-Potenz als meine fehlende Hygiene kritisierte: «Die Gläser müssen endlich geputzt werden!» Damit nicht genug. Natürlich musste sie nun der Reihe nach auch die Sehhilfen der übrigen Tischgenossen ausprobieren. Und ihnen ihre eigenen Gläser probeweise zur Verfügung stellen. Alle Schranken der optischen Moral und Promiskuität waren durchbrochen. Erstaunte Ausrufe in den unterschiedlichsten Tonarten und Lautstärken erfüllten den Raum. Ein wildes Durcheinander, eine Orgie geradezu. Wenn auch, bitte schön, auf den Gesichtssinn beschränkt. Und mehrheitlich eher unscharf als scharf. Was hätten wohl jene Apostel dazu gesagt, dachte ich, die seit dem 15. Jahrhundert auf deutschen Altarbildern öfters mal mit einer Brille zu sehen sind? Die sie natürlich nur behufs Bibellektüre aufsetzten.
Nein, so hatte man seinen Nächsten noch nie gesehen! Ohne Brille. Mit der Brille eines anderen. Dicke Gläser, dünne Fassungen. Sehstärken von 0,5 bis 3,0 Dioptrien. Die ganze Welt ändert ihr Aussehen: Wird verschwommen, undeutlich, verzerrt. So ähnlich muss es Marilyn Monroe ergangen sein, als sie im Film «How to Marry a Millionaire» einen Pfeiler mitten im Raum mit einem männlichen Gesprächspartner verwechselte. Nur gut, hatten wir uns unsere Lebensgefährten einst bei richtiger Sehstärke und ausreichender Beleuchtung ausgesucht. Obwohl in der Geschichte auch andere Fälle bekannt sind: Verwechslung in der Dunkelheit. Angestarrtwerden von einer Unbekannten, die uns gar nicht sah, weil extrem kurzsichtig. Alles schon vorgekommen. Und manchmal mindestens so sexy wie bei Festbeleuchtung.
Die optometrische Gruppensex-Phase endete übrigens abrupt, als das Dessert aufgetragen wurde. Da wollte man denn doch sehen, was die Gastgeberin auf den Teller gezaubert hatte. Deshalb sassen alle Brillen wieder auf der richtigen Nase. Das Auge isst bekanntlich mit.