Ohne Waffen keine Schweiz. Anmerkungen zu den Taliban der Alpen

image 17. Juni 2021 um 11:12
Schlacht bei Näfels, 9. April 1388, (Spiezer Chronik).
Schlacht bei Näfels, 9. April 1388, (Spiezer Chronik).
Jakob Wimpheling, ein deutscher Humanist und Historiker, meinte es gut mit den Schweizern, als er 1504 ein «Gebet zur Bekehrung der Schweizer» schrieb: «Gib ihnen ein Herz von Fleisch und nimm ihnen das Herz von Stein», bat er Gott in einem Dialog: «Gib, dass sie wenigstens einige Menschlichkeit unter den Waffen walten lassen.» Tatsächlich hatte der Ruf der Schweizer in den vergangenen Jahrzehnten gelitten: Sie galten zu Beginn des 16. Jahrhunderts als die brutalsten, blutrünstigsten, humorlosesten Krieger der Epoche.
Das hatte vor allem mit zwei Dingen zu tun. Erstens gewannen die Eidgenossen zu jener Zeit so gut wie jede Schlacht – selbst gegen Gegner, die wir heute nicht einmal mit einer diplomatischen Demarche behelligen würden: Frankreich, der Papst, Burgund, die Habsburger oder wie die damaligen Grossmächte alle hiessen – auf aktuelle Verhältnisse übertragen würde das bedeuten, dass die Schweizer heute in der Lage wären, die USA, China oder Russland militärisch zu besiegen.
Zweitens, und das beschäftigte die Zeitgenossen wie Wimpheling fast noch mehr: Die Eidgenossen nahmen nie Gefangene, sondern brachten sie kurzerhand um: «Gib ihnen Frömmigkeit, damit sie die Feinde nicht sofort niederhauen, sondern diejenigen, die sich demütig ergeben, gefangen nehmen und wegführen», betete Wimpheling und fügte an: «Das pflegen sogar die Völker der Türken zu tun».
In Anbetracht der Tatsache, dass es zu jener Zeit, einer christlichen Epoche, nichts Schlimmeres gab als die «ungläubigen», nämlich muslimischen Türken, kann man sich vorstellen, wie schwer dieser Vorwurf wog. Mit anderen Worten, die Schweizer galten als barbarischer als die Barbaren. Taliban der Alpen.

Meditation auf dem Schlachtfeld

Darüber kann es leider keinen Zweifel geben. Kaum hatten die Eidgenossen die Schlacht jeweils gewonnen, zogen sie über das Feld und stachen alles ab, was sich noch bewegte. Dann wurde geplündert. In der Regel beraubte man die Feinde fast vollständig, alles nahm man ihnen ab: Waffen, Rüstung, Proviant, Kleider. Man zog sie aus bis auf die Knochen. Die Leichen lagen am Ende nackt herum – und stanken noch Wochen danach, da niemand sie begrub.
Währenddessen gingen die Schweizer in sich und blieben drei Tage lang auf dem Schlachtfeld hocken. Neben den verrottenden Körpern ihrer Gegner beteten und sangen sie. Es war ein makabres Ritual – das alle, die davon vernahmen, noch einmal irritierte. Nur die Schweizer gewannen so brutal, nur die Schweizer verarbeiteten ihre Mordlust so merkwürdig. Heute könnte man von therapeutischen Meditations-Seminaren zwischen Leichenbergen, Blut und Verwesung sprechen. Es muss übrigens fürchterlich gestunken haben, wie die Zeitgenossen berichteten.
Warum brachten die Eidgenossen ihre Gegner immer um?
Um das zu begreifen, hilft es, wenn man sich den mittelalterlichen Kriegsgefangenenmarkt vor Augen führt. Ein grauenhaftes Geschäft. Wer einen Ritter in der Schlacht gefangen nahm, konnte ihn seinen Verwandten für teures Geld zurückverkaufen, schliesslich war es ein Ritter, also ein Angehöriger der Oberschicht. Da dies allen bekannt war, kamen die Ritter im Krieg häufiger mit dem Leben davon. Sie fielen seltener. Im Gegensatz dazu starben die Fusssoldaten wie die Fliegen, weil sich mit ihnen kaum etwas verdienen liess. Das Lösegeld, das man für einen armen Bauernsohn verlangen konnte, war lächerlich, zumal dessen Familie genauso arm wie er selbst. Also wurde er niedergemacht. Den Eidgenossen, meist selber Bauern, passte dieser unfaire Handel ganz und gar nicht, sie durchschauten die Ungleichheit vor dem Tode, also verlegten sie den Klassenkampf sozusagen ins Militärische. Ohne Ansehen der Person und des Ranges töteten sie alle: Ritter und Fusssoldaten; Adlige oder Bauern. Sie sahen nicht ein, warum sie ausgerechnet einen Ritter barmherziger behandeln sollten: Vor ihrer Hellebarde waren alle gleich. Sie handelten nicht geschäftstüchtig, sondern egalitär. Umso mehr Hass zogen sich die Eidgenossen zu. Nie liessen sie Gnade walten. Wimpheling konnte so lange beten, wie er wollte.

Staatsbildung im Zeichen der Hellebarde

Dass die Eidgenossen so tüchtige Krieger waren, hing direkt mit ihrem einzigartigen Waffenrecht zusammen, das eben genauso egalitär war. Jeder Mann zwischen 16 und 60 Jahren war verpflichtet, eine Waffe zu besitzen – und das seit jeher. Er hatte sie selbst anzuschaffen, zu pflegen, ihre Anwendung zu üben und zuhause aufzubewahren. Dieses Recht oder besser: Pflicht, denn das war durchaus eine kostspielige Angelegenheit, gab es sonst in Europa so gut wie nirgendwo. Im Gegenteil, seit dem Hohen Mittelalter hatten die Kaiser, Könige und Fürsten alles darangesetzt, die einfachen Leute zu entwaffnen – was ihnen weitgehend gelang, ausser in den Alpen, wo die alten Zustände überlebten. Es gab viele Ursachen dafür, dass hier seit dem späten 13. Jahrhundert ein kurioser Bund von Bauern und Städtern entstanden war, aus dem schliesslich unser Land hervorgehen solle: das Waffenrecht gehört dazu.
Alle männlichen Eidgenossen lernten von Kind auf, mit Waffen zu kämpfen, bald erfanden sie auch ihre eigene Waffe, die Hellebarde, die dem vernichtenden Charakter der eidgenössischen Kriegsführung entsprach. Auch sie war übrigens eine klassenkämpferische Waffe. Sie richtete sich in erster Linie gegen die Ritter, also jene Vertreter der Oberschicht, die zu Pferd Krieg führten. Die Eidgenossen dagegen stürzten sich praktisch nur als Fusssoldaten in die Schlacht. Wenn ein Eidgenosse dabei auf einen Ritter traf, zog er ihn mit dem Haken der Hellebarde vom hohen Ross herunter, um ihn dann mit dem Spiess zu erstechen oder mit dem Beil zu erschlagen. Das Beil wurde dabei gelegentlich wie ein Büchsenöffner eingesetzt, indem man die schwere Brustpanzerung der Ritter damit auftrennte. Ebenso beliebt war die Methode, mit dem Beil den Bauch des Pferdes aufzuschlitzen, und so den Ritter zu Fall zu bringen.
Unerträgliche, blutige Methoden. Keine Frage. Aber ohne dieses erstaunliche Know-how des Tötens wäre dieses Land gar nie herangewachsen. Und es war ein Land, wo in den Voralpen bereits im 14. Jahrhundert Landsgemeinden bestanden, wo alle Männer ein Wahl- und Stimmrecht besassen. Die Eidgenossenschaft war keine Monarchie, sondern faktisch eine Republik, als es in Europa kaum solche gab. Gewiss, eine moderne Demokratie war das auch nicht, aber etwas demokratischer als überall sonst gestalteten sich die Verhältnisse schon.
Dabei kam es auf die allgemeine Wehrpflicht an: Nur in der alten Eidgenossenschaft wussten alle Handwerker, Bauern, Fischer, Händler und Patrizier, wie man mit Waffen umging. Es war ein waffenstarrendes Land, zweifellos, aber nur deswegen erwies es sich am Ende als eines der sichersten. Weil jeder Bürger sich mit der eigenen Waffe wehren konnte, kamen die herrschenden Kreise nur selten auf dumme Gedanken. In der Schweiz gab es nie einen despotischen Staat – genau aus diesem Grund. Wie hätte ein Despot diese bis an die Zähne bewaffneten Bürger auf die Dauer niederhalten sollen?
Natürlich leben wir nicht mehr im 14. oder 16. Jahrhundert. Wimpheling muss sich keine Sorgen mehr machen. Wir sind friedfertig geworden. Doch die Waffentradition ist eine Tradition der Befreiung, auch der Demokratie, ja selbst der sozialen Gleichheit. Daran sollten wir denken, wenn Bürger aus anderen Ländern, die einst Monarchien waren, uns weismachen wollen, unser Waffenrecht sei überholt. Das hatten die Monarchen schon im Hohen Mittelalter behauptet.

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