Somms Memo
Netto-Null? Kein CO2 bis 2050? Dieses Wunder wird nie geschehen
Alle zwei Tage drei neue Atomkraftwerke.
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Die Fakten: Die Welt will bis 2050 Netto-Null erreichen. Um das zu verwirklichen, müssten wir ab jetzt alle zwei Tage drei Atomkraftwerke oder jeden Tag rund 1500 Windräder bauen.
Warum das wichtig ist: Netto-Null ist etwa so realistisch wie ein Besuch der Marsmenschen auf dem Bürgenstock. Mehr Common Sense in der Klimapolitik wäre angezeigt.
Wenn ein Manager oder ein Politiker zeigen will, dass er sich auf der Höhe der Zeit bewegt, dann muss er irgendwann im Lauf seiner Ausführungen versprechen, dass er natürlich Netto-Null anstrebt
- Sei das mit seinem Unternehmen
- Sei das mit seiner Politik
Der Applaus ist ihm gewiss. Und den Menschen, die ihm zugehört haben, stehen vor Ergriffenheit die Tränen im Gesicht. Und erlöse uns von dem Bösen.
Netto-Null bedeutet, dass wir bis 2050 unseren Energiebedarf möglichst ohne zusätzliche Treibhausgas-Emissionenstillen können, konkret handelt es sich darum, nur noch so viele Treibhausgase in der Atmosphäre freizusetzen, wie wir in der Lage sind, wieder daraus zu entfernen. Wenn man sich dieses Ziel vornimmt, dann liegt es daran, dass diese sogenannten Treibhausgase das Klima erwärmen – wobei es diverse solcher Gase gibt, die dafür in Frage kommen, wie etwa Kohlendioxid (CO2), Methan oder Lachgas.
Kein Treibhausgas beschäftigt die Politiker und die Klimawissenschaftler allerdings mehr als das CO2.
Das sollte es auch, – zumal wir seit Beginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert einen immer grösseren Teil der Energie, die wir benötigen, dadurch gewinnen, dass wir fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl oder Erdgas verbrennen. Und wenn wir das tun, geben wir CO2 ab, und weil wir das seit Jahrzehnten so handhaben, hat das CO2 in der Atmosphäre seit gut 200 Jahren unablässig zugenommen. Das wiederum lässt die Temperaturen wegen des Treibhauseffektes steigen.
So gesehen bleibt uns kaum eine andere Wahl: Wir sollten die Nutzung von fossilen Brennstoffen nicht bloss vermindern, sondern am besten ganz und gar darauf zu verzichten.
Nur wenn wir das zustande bringen, so sagt insbesondere der Weltklimarat der UNO (IPCC), besteht die Aussicht, dass wir die unerwünschte, als gefährlich angesehene Klimaerwärmung etwas abbremsen können.
Deshalb Netto-Null.
Weil das CO2 ja nicht einfach aus der Luft verschwindet, sondern noch da ist (und das Klima beeinflusst), wenn wir schon lange aufgehört haben, neues CO2 abzusondern, scheint es unumgänglich, so rasch als möglich aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen, also wenigstens dafür zu sorgen, dass kein neues CO2 mehr dazu kommt.
In der Meinung, dieses monumentale Unterfangen auf die Kommastelle genau planen zu können, hat der IPCC vorgeschlagen, bis 2050 Netto-Null als Ziel für die ganze Welt festzuschreiben.
Damit soll sichergestellt werden, dass sich die weltweite Durchschnittstemperatur bis Ende des Jahrhunderts nicht mehr als um 2 Grad Celsius erhöht.
Darauf haben sich 195 Staaten im Pariser Abkommen von 2015 geeinigt. Darunter auch die Schweiz.
Das Ziel ist ehrgeizig, das Ziel ist eine Fantasie.
Denn es ist beim besten Willen nicht erreichbar, wie Roger Pielke, ein Professor für Umweltwissenschaft an der University of Colorado Boulder in den USA unlängst vorgerechnet hat.
Es ist eine simple Frage der Mathematik.
Um das aufzuzeigen, stützt sich Pielke auf die BP Statistical Review of World Energy, Datenmaterial, das allgemein anerkannt wird, wenn es darum geht, die Entwicklung der Energiemärkte und Energiepolitik abzuschätzen.
- Was müssten wir tun, wenn wir in knapp 30 Jahren ganz ohne fossile Brennstoffe auskommen möchten?
- Was braucht es, um sie zu ersetzen?
Im Jahr 2019 verbrauchte die gesamte Welt Energie in der Höhe von rund 14 000 Millionen Tonnen von Öläquivalenten, auf Englisch: Million Tons of Oil Equivalent, kurz: mtoe. Dabei handelt es sich um eine gängige Einheit für Energie, die davon ausgeht, wieviel Energie wir erhalten, wenn wir eine Tonne Erdöl verbrennen.
So misst man die Energie, die aus Gas oder Kohle stammt, so misst man Energie, die man aus Windturbinen oder Solaranlagen und Atomkraftwerken gewinnt.
- Von diesen 14 000 mtoe stammten 12 000 mtoe aus fossilen Brennstoffen, sprich: aus Erdöl, Erdgas und Kohle
- Das entspricht etwa 85 Prozent
Das allein zeigt den Ernst der Lage. Für 85 Prozent unserer Energiequellen müssen wir in 27 Jahren Ersatz finden. Viel Glück.
Pielke wählte als Stichjahr 2019, das letzte Jahr vor der Pandemie, was Sinn ergibt, zumal Corona unseren Energieverbrauch um rund 4 Prozent reduziert hat. Das ist erfreulich, aber sicher nicht nachhaltig. Lockdowns, Home Office und die Zerrüttung der Lieferketten: Irgendwann wird die Welt wieder zur Tagesordnung zurückkehren.
Ich weise darauf hin, weil unser Energiebedarf in Zukunft weiter zunehmen dürfte, wovon auch Pielke ausgeht. Er rechnet mit zusätzlichen 5800 mtoe bis 2050. Das macht unsere Aufgabe noch anspruchsvoller – oder verzweifelter.
Denn bis 2050 bleibt uns kaum mehr Zeit. Es sind ab heute noch 9713 Tage bis zum 1. Januar 2050, im Jahr 2019 waren es noch rund 11 000 Tage. Die Zeit rennt uns davon.
Kurz, wir müssen ab morgen jeden Tag etwa 1,8 mtoe Energie aus fossilen Brennstoffen aufgeben und mit unverdächtigen Energien ersetzen, ob nun mit Wind, Sonne oder Atomkraft.
Pielke rechnet vor, was das hiesse:
- Weltweit müssten wir ab sofort alle zwei Tage drei neue Kernkraftwerke in Betrieb nehmen
- Pielke bezog sich auf ein amerikanisches KKW, das eine Leistung von 1658 Megawatt vorweist, konkret: Turkey Point in Florida
- Auf schweizerische Verhältnisse umgerechnet: wären alle zwei Tage etwa vier neue Atomkraftwerke mit der Leistung von Leibstadt nötig (Leibstadt: 1275 MW)
Wem Atomkraftwerke schon nur als Vergleichsgrösse ein Graus sind, für den hat Pielke den Bedarf auch in Windkraftwerken ausgerechnet:
- Wir bräuchten jeden Tag 1000 bis 1500 neue Windräder, je nach Leistungskraft einer Turbine
- Weil es aber nicht dauernd windet, müssten wir zudem für Back-up sorgen, wozu wir allerdings keine Gaskraftwerke nutzen dürfen. Also kommen noch einige neue Stauseen hinzu – und zwar so viele, dass wir bald keine Täler mehr sähen
Alle zwei Tage vier Mal Leibstadt oder jeden Tag 1000 Windräder.
Zarah Leander, Sängerin für die Nazis (Bild: Keystone)
Sie haben die Wahl! Unsere Politiker hören zu und machen es möglich. Yes, We Can.
Oder um es mit Zarah Leander zu sagen, einer schwedischen Sängerin, die noch für die Nazis sang, als draussen die deutschen Städte in Trümmer gelegt wurden:
«Ich weiss, es wird einmal ein Wunder gescheh'n
Und dann werden tausend Märchen wahr»
Ich wünsche Ihnen einen Tag voller Wirklichkeiten
Markus Somm
PS Weil ich heute und morgen geschäftlich in Berlin unterwegs bin, komme ich nicht dazu, ein Memo zu liefern. Aus diesem Grund werde ich zwei bereits erschienene Memos veröffentlichen – die ich für nach wie vor relevant halte.
PPS Wie dieses Memo, geschrieben vor fast genau einem Jahr, habe ich es aus gegebenem Anlass etwas aktualisiert. Denn in drei Wochen stimmen wir über das Klimaschutzgesetz ab, wo wir das Netto-Null-Ziel für 2050 festlegen. Darum wird es nicht realistischer. Ich empfehle Ihnen, Nein zu stimmen.