Somms Memo
Mutter aller Abstimmungen: Der EWR und warum er vor 30 Jahren untergehen musste.
Triumph des Medizinmannes: Christoph Blocher und Anhänger während der Kampagne gegen den EWR, 1992.
Die Fakten: Vor dreissig Jahren, am 6. Dezember 1992, scheiterte der EWR. Die GLP will ihn wiederbeleben. Die SVP feiert die 30. Beerdigung.
Warum das wichtig ist: Es war die entscheidende Abstimmung des 20. Jahrhunderts. Eine Generation später sind wir ein anderes Land – in einem anderen Europa.
Stellen Sie sich vor, Sie würden für eine Volksinitiative Unterschriften sammeln, die zum Ziel hat, die direkte Demokratie in der Schweiz abzuschaffen.
- Die 100 000 Unterschriften brächten Sie vielleicht noch zusammen
- schon allein die vielen Politiker und Beamten, die sich irgendwann über einen lästigen Volksentscheid geärgert haben, würden Ihnen die Unterschriftenbögen aus den Händen reissen
Dann aber käme es zur Abstimmung. Wie würden Volk und Stände entscheiden?
Es ist ein No-Brainer.
Niemand, der bei Verstand ist, gibt freiwillig das weitreichendste Stimmrecht der Weltgeschichte preis. Wenn man ihn schon fragt.
Seit 1874, seit es auf Bundesebene das fakultative Referendum gibt, und seit 1891, als die Volksinitiative folgte, wäre es deshalb keinem Schweizer Politiker je in den Sinn gekommen, eine solche Initiative zu lancieren oder einen ähnlichen Vorstoss einzureichen.
Man hätte ihn für verrückt erklärt. Oder lebensmüde.
- Warum stürzt er sich nicht von der Bundesterrasse hinunter?
- oder erschiesst sich auf dem Bundesplatz? Metaphorisch, meine ich natürlich
Die Volksrechte sind, um es in einer amerikanischen Redensart auszudrücken, «The Third Rail of Swiss Politics», das dritte Gleis, das in den USA neben den Geleisen der U-Bahn verläuft und diese mit Strom versorgt. Wer sie berührt, ist tot.
Wenn wir den EWR-Vertrag betrachten, dann wäre es genau darauf hinausgelaufen:
- Die Volksrechte wären weitgehend ausgeschaltet worden, denn was die EU in vielen wesentlichen Politikbereichen beschloss (damals Europäische Gemeinschaft, EG genannt), hätte die Schweiz umsetzen müssen – ohne dass Volk und Stände noch viel zu melden gehabt hätten. Schluss mit Papperlapapp
- Man hätte das Volk womöglich jeweils über Varianten abstimmen lassen, wie man eine EU-Direktive ins eigene Gesetz überführte, – damit das begriffsstutzige Volk nicht so gut merkte, was ihm abhanden gekommen war
- Im Kern hätten sich die Schweizer und ihre Kantone allerdings selbst entmachtet (im Übrigen auch das Parlament, erkundigen Sie sich bei einem deutschen Bundestagsabgeordneten)
Ein solcher Vertrag konnte nicht durchkommen. Er musste untergehen.
Es war ein Kolonialvertrag – und das Naturvolk, das man so kolonisieren wollte, seit geraumer Zeit als «Schweizer» bekannt, fand es heraus, bevor die EU-Missionare in der Wildnis der Alpen ihre Missionsschulen eröffneten, um das europäische Evangelium zu verkündigen.
«Kolonialvertrag» war ein Begriff, den Christoph Blocher, der führende Medizinmann der einheimischen Stämme, verwendete, um den bösen Geist des EWR auszutreiben. In den herrschenden Kreisen des Naturvolkes – Häuptlinge, Stammesälteste, andere, weniger erfolgreiche Medizinmänner – gab man sich deshalb empört, ja angewidert
- Man warf Blocher, dem Medizinmann, vor, Gift statt die Wahrheit unters Volk zu bringen
- Man rief: Nieder mit dem Populismus!
Tatsächlich war es ein Terminus, den der Bundesrat sinngemäss selbst brauchte, um den EWR zu beschreiben – in einer Sitzung, von der wir erst jetzt, dreissig Jahre später, das Protokoll lesen können. So lange blieb es geheim. (Das ist üblich.)
Weil die EWR-Verhandlungen ins Stocken geraten waren, hatte sich die Landesregierung am 17. April 1991 zu einer Krisensitzung getroffen. Es überwogen Zorn und Panik:
- Otto Stich (SP): «Ein EWR, wie er sich nun jetzt abzeichnet, bedeutet eine Satellisierung der Schweiz.»
- Arnold Koller (CVP): «Immer weniger Kreise stehen hinter dem EWR. In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, dass sich die Schweiz tranchenweise abschlachten lässt.»
- Flavio Cotti (CVP): «Es ist offensichtlich, dass der EWR eine Satellisierung unseres Landes mit sich brächte – zumindest provisorisch.»
- Kaspar Villiger (FDP): «Wir bewegen uns auf dem Weg eines Kolonialstaates mit Autonomiestatut.»
Der EWR-Vertrag, wie er sich an diesem 17. April 1991 andeutete, wurde nicht mehr besser – im Gegenteil. Dennoch legte ihn der Bundesrat zuerst dem Parlament und dann am 6. Dezember 1992 auch Volk und Ständen vor – mit einer Begeisterung und einem neu erweckten Glauben, als hätten Atheisten plötzlich behauptet, ihnen sei gestern die Jungfrau Maria erschienen.
Der EWR musste untergehen. Weil selbst jene, die daran zu glauben vorgaben, heimlich dem schrecklichen Medizinmann recht gaben. Sie schluckten lieber Gift als ihr eigenes Heilmittel.
30 Jahre später leben wir in einem anderen Land.
- Eine Umfrage unter den Schweizern, die 2019 an den Eidgenössischen Wahlen teilgenommen hatten, ergab: bloss 14 Prozent wollen noch der EU beitreten (Selects Studie 2019)
- 1995 waren es 53 Prozent gewesen. Eine Mehrheit! Wenn auch eine dünne (Selects Studie 1995)
Die Entzauberung der EU. Wirft man überdies einen Blick darauf, wie sich die Zustimmung zu einer Mitgliedschaft unter den verschiedenen Altersgruppen entwickelt hat, dann zeigt sich ein noch trostloseres Bild:
- 1995 waren die Jungen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren die glühendsten Anhänger der EU (ich gehörte dazu): 59 Prozent wünschten den Beitritt, subito! Keine Altersgruppe war so hingerissen
- 2019 ist diese Zahl auf 6,5 Prozent zusammengeschrumpft. Kaum einer der 18-34jährigen will noch in die EU. Die EU hat die eigene Zukunft überdauert (jedenfalls in der Schweiz)
Flavio Cotti, Bundesrat und Prognostiker.
1992, kurz nach seinem Sieg, bot Christoph Blocher dem Bundesrat eine Art Waffenstillstand an. Wenn die Regierung für fünf Jahre den EU-Beitritt als Ziel aussetze, so schlug er vor, dann würden auch er und seine SVP für fünf Jahre zum Thema schweigen. Das sollte beiden Seiten Zeit geben, einen Kompromiss zu finden. Flavio Cotti, Bundesrat der CVP, lachte ihn an: «In fünf Jahren sind wir Mitglied der EU!»
Das wäre 1997 gewesen. Seither sind 25 Jahre vergangen. Cotti ist 2020 verstorben.
Ich wünsche Ihnen einen ereignisreichen Tag
Markus Somm
PS: Aus Anlass des 30. Jahrestages des EWR habe ich mit Christoph Blocher, alt Bundesrat (SVP), ein ausführliches Gespräch auf Nebelspalter.ch geführt: «Beziehungen zur EU? Die sind doch sehr gut. Deshalb geschieht auch nichts». Prädikat: Sehr wertvoll. Link (wird ab 12.30 Uhr auf www.nebelspalter.ch freigeschaltet)
PPS: Am Mittwoch, 7. Dezember 2022, finden in Bern Bundesratswahlen statt. Erfahrungsgemäss dürfte etwa um 10 Uhr die Lage geklärt sein. Ich schreibe ein Memo zur Wahl, aber da man nie weiss, wie lange eine solche dauert, erscheint dieses Memo wohl etwas später als um 11.45, dem üblichen (oder angestrebten) Zeitpunkt. Ich bitte um Verständnis.
PPPS: Dominik Feusi, unser Bundeshauschef, und ich werden an diesem Dienstagabend, 6. Dezember, aus dem gleichen Grund ein Bern Einfach Spezial bestreiten. Gast: Thomas Aeschi, Fraktionschef der SVP, leicht zeitversetzt ab 20 Uhr aus der Bellevue Bar in Bern. Wer in der Nähe ist, kann gerne vorbeikommen. Das Bern Einfach um 17 Uhr entfällt.