Macron oder Le Pen? Frankreich hatte keine Wahl
Emmanuel Macron und Marine Le Pen, Kandidaten für die französische Präsidentschaft.
Die Fakten: Emmanuel Macron hat den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen für sich entschieden. Er schlug Marine Le Pen klar. Nun folgt die Stichwahl.
Warum das wichtig ist: Macron ist der Mann der Eliten. Le Pen die Frau der kleinen, wütenden Leute. Sie könnte immer noch siegen. Frankreich scheint verloren – ganz gleich, wer gewinnt.
Es gebe zwei Theorien zur Französischen Revolution, sagte Felix Somary seinem Begleiter Dr. Maurice Mayer – die beiden fuhren unmittelbar nach dem Krieg, 1945, von Paris in die Schweiz:
- Die eine Theorie sieht in 1789 den Aufstieg
- Die andere den ersten Akt des Abstieges
Und Somary machte deutlich, dass er die zweite Theorie für richtig hielt.
«Mayer sah mich mit äusserstem Befremden an». So befremdet, dass Somary, ein Schweizer Bankier österreichischer Herkunft, sich nicht sicher war, ob Mayer, ein Franzose, ihn sogleich aus dem Auto warf.
«Wie begründen Sie Ihre Ansicht?», fragte Mayer.
«Vergleichen Sie das Frankreich von damals mit dem von heute. Damals Regierungskontinuität seit vollen acht Jahrhunderten – Frankreich Herr des heutigen Middle West, militärischer Schöpfer der amerikanischen Unabhängigkeit, führende Macht des Kontinents – und heute? Wer hat den Gedanken der nationalen Einheit proklamiert, der euch jetzt – durch Deutschland und Italien – niedergeworfen hat und euch morgen um Afrika bringen wird?»
Mayer hatte in der französischen Résistance sein Leben aufs Spiel gesetzt. Seine Mutter war von den Nazis getötet worden, seine Frau, eine Schweizerin, hatte sich von ihm scheiden lassen. Nach kurzem Schweigen antwortete er:
«Es ist wahr, was Sie sagen. Aber es hört sich bitter an.»
Befreiung von Paris (1944). Vorne in der Mitte: General Charles de Gaulle.
Frankreich ist seither nicht sehr viel weitergekommen.
Gewiss, nach dem Krieg folgten glänzende Jahre des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs, Frankreich prägte die entstehende Europäische Gemeinschaft (heute die EU), und mit Charles de Gaulle wies das Land noch einmal einen grandiosen, wenn auch eingebildeten Politiker der Weltliga auf, – und trotzdem blieb das Land ein ewiger Zweiter.
Deutschland, das 1945 in Trümmern lag, überholte Frankreich schon bald wieder. Zuerst mit einem Wirtschaftswunder sondergleichen, dann – seit der Wiedervereinigung – auch politisch.
Emmanuel Macron, ein blitzgescheiter, ja brillanter Präsident der Französischen Republik in Paris, mag heute noch so triumphal den europäischen Staatsmann geben, – es sind die Politiker in Berlin, die die Geschicke des Kontinents lenken, selbst wenn sie, wie der derzeitige Kanzler Olaf Scholz, eher der Spezies der grauen Maus angehören.
Frankreich: bombastisch, geistreich, manchmal geschwätzig, immer der Zweite.
Wenn die Franzosen am kommenden 24. April in der Stichwahl darüber entscheiden, wer sie in den nächsten fünf Jahren regiert, dann haben sie die Wahl zwischen
- Weiterwursteln
- und dem Fleischwolf
Macron hat – bei allen guten, mutigen liberalen Ansätzen – nicht sehr viel erreicht. Sein Selbstbewusstsein verhält sich umgekehrt proportional zum Leistungsausweis.
- Wirtschaftlich rutscht Frankreich seit Jahren ab – besonders im Vergleich zu Deutschland, dem ewigen Ersten. Kein Absturz ist zwar zu melden, aber der sanfte Sinkflug. Macron änderte das nicht
- Was Europa anbelangt, ist Macron zwar der beste, wohl letzte Visionär der EU. Seinen rauschhaften Worten folgen aber kaum je nüchterne Taten. Deutschland als Strafe. Paris fliegt zum Mars, Berlin organisiert die Weiterreise nach Zossen
- Auch innenpolitisch kommt Macron nicht vom Fleck. Er scheitert an der Schizophrenie der Franzosen. Sie reden so gern vom Fortschritt, dass sie ganz vergessen, ihn je zu vollziehen. Verliebt in ihre Vergangenheit, verachten sie die Gegenwart und verplaudern die Zukunft
Und Marine Le Pen? Sie ist eine gefährliche Kreuzung von Jeanne d’Arc, der Retterin des Königreichs, und Maximilien de Robespierre, dem Totengräber der Revolution.
Le Pen verbindet durchaus diskutable Ansätze, besonders was die EU und die Immigration betrifft, mit einer wirtschaftsfeindlichen, nationalistischen, ja sozialistischen Politik, die Frankreich vollends ins Elend stürzen dürfte.
Was sie am meisten auszeichnet und worin sie einem Donald Trump gleicht: Sie brächte das Establishment zum Erzittern. Und vielleicht wäre es aus Sicht der Franzosen an der Zeit, der arrogantesten Elite der Welt, der Pariser Elite, diese Rosskur zuzumuten.
Denn Somary lag richtig. Wenn wir die Bilanz jener eleganten und selbstbewussten Männer und Frauen ziehen, die seit 1789 für die Politik und Wirtschaft dieses wunderbaren Landes verantwortlich waren, dann fällt sie bedrückend aus:
- Frankreich erlitt mehr Revolutionen als jedes andere westliche Land: 1789, 1830, 1848, 1871, 1968. Wer an der Regierung sitzt und es schafft, dass das Volk einem ständig die Macht mit Gewalt entziehen will, macht etwas Fundamentales falsch
- Frankreich entwickelte sich zwar zu einem ansehnlichen Industrieland, aber nie brachte man es fertig, wirklich an die Spitze vorzustossen. Man wuchs und wuchs, aber nie so stürmisch, nie so beeindruckend wie England, Deutschland oder Amerika
- Obwohl in Frankreich seit Jahrhunderten aufdringlicher von Egalité, von Gleichheit, gesprochen wird als irgendwo sonst, gibt es kaum eine Bourgeoisie, die mit mehr Hochnäsigkeit über die Petite Bourgeoisie oder die einfachen Leute urteilt. Es bleibt ein Land des Klassenkampfes, wo die Klassen sich hassen, als hätte es nie eine Demokratie gegeben
Gut ein Viertel der französischen Wähler enthielt sich im ersten Wahlgang der Stimme. Im zweiten, so befürchtet man, könnten es noch mehr sein. Viele Franzosen haben offenbar ihr eigenes Land aufgegeben. Es kümmert sie nicht mehr, wer in Paris versagt.
Oder wie es Charles de Gaulle ausgedrückt hat:
«Wie kann man ein Land regieren, das 246 Käsesorten hat?»
Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit
Markus Somm
P.S. Die ausgesprochen lesenswerten Memoiren von Somary sind vor kurzem neu aufgelegt worden: Felix Somary, Erinnerungen aus meinem Leben, Zürich (1956) 2013.