Somms Memo
Macron in China: Kriecht er noch oder liegt er schon flach am Boden? Vielleicht hat er Recht.
Emmanuel Macron, französischer Präsident, zu Besuch bei Xi Jinping, Staatschef von China.
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Die Fakten: Der französische Präsident Emmanuel Macron wirbt für mehr europäische Agnostik gegenüber China. Er will keinesfalls zum «Mitläufer» der USA werden.
Warum das wichtig ist: Die Entrüstung ist gross, ob in Berlin oder Washington. Dabei sagt Macron nur, was viele denken. Mourir pour Taipeh? Non
Im Frühling 1939 gab es in Frankreich (und in Grossbritannien) viele, die keinen Sinn darin sahen, Polen gegen Adolf Hitler und seine Nazis zu verteidigen – was, so zeichnete sich damals immer deutlicher ab, wohl bald nötig sein dürfte
- Zu offensichtlich drohten die revanchistischen Nazis damit, den «polnischen Korridor» sowie die einst deutsche, jetzt unabhängige Hafenstadt Danzig «heimzuholen». Dieser Korridor trennte Ostpreussen vom übrigen Reich. Deutschland hatte das Gebiet nach dem Ersten Weltkrieg an Polen verloren
- Kurz, es roch nach Krieg. Polen hielt sich bereit
Dennoch schrieb Marcel Déat, ein französischer Autor, im Mai 1939 einen Zeitungsartikel, dessen Titel zuerst berühmt, dann berüchtigt werden sollte:
- «Pourquoi mourir pour Dantzig?» Warum für Danzig sterben?
- Oder anders gesagt: Was kümmert uns f* Polen?
Heute sagt wieder ein Franzose etwas Ähnliches – er heisst Macron und ist Präsident seines Landes:
- Pourquoi mourir pour Taipeh?
Taipeh ist die Hauptstadt von Taiwan, also von jenem demokratischen Land, das sich einer eher ambivalenten Nachbarschaft mit dem kommunistischen China erfreut. Das grosse Land hat die kleine Insel nie als unabhängig anerkannt. Man droht ebenfalls mit der «Heimholung». Taiwan hält sich bereit.
Da es sich allerdings bei diesem Franzosen um den französischen Präsidenten Macron handelt, ist die Resonanz, die er erreicht, vielleicht noch etwas grösser als bei Déat.
- Macron wird wahlweise als Verräter der «westlichen Wertegemeinschaft», Dummkopf oder chinesischer Darling bezeichnet
Vor allen Dingen in Deutschland ist die Empörung beachtlich – was damit zusammenhängen mag, dass man hier befürchtet, Macrons Beispiel machte Schule, – nicht, was China betrifft, sondern die Ukraine. Jegliche anti-amerikanische Anmutung gilt als Zumutung. (Zu Recht).
Natürlich ist Macron anti-amerikanisch eingestellt. Er ist ja ein Franzose – und trotz uralter Freundschaft – hat Frankreich es nie ganz verwunden, dass ausgerechnet das relativ unzivilisierte Land, das man 1775–1783 bei seinem Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten unterstützt hatte, mehr als zweihundert Jahre später zum Zentrum der westlichen Zivilisation aufgestiegen ist.
- Ist Paris nicht ein Vorort von New York?
- Jedenfalls kämpft kein Land verzweifelter gegen die Hegemonie der englischen Sprache als Frankreich. Man spricht vom «ordinateur», wenn man den Computer meint, man schreibt «logiciel» vor, wenn es um Software geht
Wenn wir Macron im O-Ton lesen, dann klingt das ganz ähnlich, nämlich verzweifelt – bei allem Eigensinn, den man bewundern muss.
Macron hatte Xi Jinping, den chinesischen Staatschef, vergangene Woche in Peking besucht. Auf dem Rückflug nach Paris gab er drei Journalisten ein Interview. Dabei sagte er unter anderem:
- «Die Frage, die die Europäer beantworten müssen, lautet: Ist es in unserem Interesse, [eine Krise] in Taiwan zu beschleunigen? Nein. Das Schlimmste wäre es, wenn wir meinten, wir müssten hier zu Mitläufern werden, indem wir uns der amerikanischen Agenda und der darauffolgenden chinesischen Überreaktion anpassten.»
- «Europa sieht sich dem Risiko gegenüber, dass es in Krisen verwickelt wird, die nicht die unseren sind, – was uns daran hindert, eine strategische Autonomie aufzubauen»
Was imposant klingt – «strategische Autonomie» – ist, wenn man genauer hinhört, nichts anderes als ein Wort für «Ohnmacht». Es erinnert an «logiciel» – ein kulturell korrektes Wort, das sich selbst in Frankreich kaum der Software erwehren kann.
- Logiciel? Are you kidding me?
Denn Macron, der sein Land seit sechs Jahren vergeblich zu modernisieren versucht, weiss am besten, wie es um diese «strategische Autonomie» bestellt ist:
- Der Krieg in der Ukraine hat offengelegt, dass die EU (wenn Macron von Europa spricht, meint er die EU), nicht in der Lage ist, seine Interessen selber zu verteidigen
- Ohne amerikanische Militärhilfe stünde Putin längst in Kiew und Lemberg, wenn nicht in Warschau und Riga
- Diese Hilfe hat allerdings einen Preis – und der heisst: Taiwan
Sollte es je zu einem Konflikt zwischen den USA und China wegen Taiwan kommen – wovor uns der Gott des Krieges bewahren möge –, dann wird den Europäern kaum etwas anderes übrigbleiben, als sich auf die Seite der Amerikaner zu schlagen – sicher mit Sanktionen, sicher mit Waffen, wenn nicht gar mit Truppen.
- Neutral, «strategisch autonom» – alles egal
- Das gilt im Übrigen selbst für uns neutrale Schweizer
Wer jetzt schon jammert, die Amerikaner setzten uns fürchterlich unter Druck, wird noch sein blaues Wunder erleben. Es ist der Unterschied zwischen einer kalten Bise und einem Tsunami.
Die einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist keine, weil sie so egoistisch und feige ist, wenn auch realistisch:
Dass die Amerikaner selber zum Schluss kommen:
- Why Die for Taipeh? Warum für Taipeh sterben?
Das Gefühl ist den Amerikanern nicht fremd.
Wenn wir uns daran erinnern, warum die Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg in China überhaupt an die Macht gelangt sind, dann lag es genau an diesem Gefühl.
Zwar besiegten die Amerikaner die Japaner und befreiten damit auch die Chinesen – doch verloren sie nachher den Frieden und auch das Land.
- Es war eine Mischung aus verständlicher Kriegsmüdigkeit und törichter, kurzsichtiger Politik
- Jahrelang waren die USA den chinesischen Nationalisten von Chiang Kai-shek beigestanden (dem Kuomintang), die fast ganz allein gegen die japanischen Besatzer gekämpft hatten, bis Präsident Franklin D. Roosevelt sie an Stalin auslieferte und an Mao Zedong verriet, der am Ende den Bürgerkrieg gewann – dank russischer Unterstützung und infolge amerikanischen Desinteresses.
Es war ein schändlicher Verrat. Thema für ein nächstes Memo.
Who Lost China? Fragten sich danach die Amerikaner jahrelang. Vielleicht müssten sie sich bei Macron erkundigen.
Dieser sagte einmal:
«Ich bin stolz auf meine Unreife und politische Unerfahrenheit.»
Ob er das ironisch gemeint hat, wird die Geschichte zeigen.
Ich wünsche Ihnen einen erholten Wochenbeginn
Markus Somm