Somms Memo

Livia Leu geht. Wer mit der EU verhandelt, lebt gefährlich.

image 10. Mai 2023 um 10:00
Staatssekretärin Livia Leu. Sie soll Botschafterin in Berlin werden.
Staatssekretärin Livia Leu. Sie soll Botschafterin in Berlin werden.
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Die Fakten: Livia Leu gibt ihren Posten als Chefunterhändlerin mit der EU auf. Ob freiwillig oder unfreiwillig, ist offen. Warum das wichtig ist: Seit 2015 haben die Verhandlungen mit der EU vier Diplomaten an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Zeit für neue Ideen? Wenn man im antiken Griechenland wissen wollte, ob es sich lohnt, mit einem persischen Grosskönig zu verhandeln, dann war es immer ein guter Ansatz zu schauen, wie es dem Vorgänger ergangen war, der das Gespräch zuvor gesucht hatte:
  • Wurde er geköpft?
  • Nach dem Gespräch oder vorher?
  • Und was geschah mit seinem Kopf? Wurde er nach Griechenland zurückgeschickt (Silbertablett, Sack?) oder landete auf einem mesopotamischen Abfallhaufen?

So schlimm ist es nicht, wenn Schweizer nach Brüssel fahren, um dort mit der EU eine Einigung zu finden. Doch gemessen am Verschleiss unserer Diplomaten, die während der Mission virtuell um einen Kopf kleiner gemacht wurden, fühlt man sich an die asiatische Despotie erinnert.
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Seit 2015 hat der Schweizer Bundesrat etwa alle zwei Jahre den Chefunterhändler ausgewechselt. Und wenn heute Staatssekretärin Livia Leu ihren Rücktritt bekannt gibt, wie das SRF und Tages-Anzeiger unter Berufung auf «zuverlässige Quellen» melden, dann ist sie bereits die vierte, die nach aufwendigen Gesprächen die Nerven verloren hat.
  • Ob sie selber genug hat, weil sie gemerkt hat, dass die Gespräche nicht vom Fleck kommen und keine Aussicht auf Erfolg besteht,
  • Oder ob der Bundesrat, insbesondere ihr Vorgesetzter, Bundesrat Ignazio Cassis (FDP), sie in die Wüste schickt, weil er ihr Versagen vorwirft,

Wir wissen es nicht – und wollen gar nicht erst spekulieren. Denn die Fakten sprechen für sich. Es sind Fakten, die in unserem Land gewisse europhile Kreise partout nicht zur Kenntnis nehmen wollen:
  • Die EU ist in einer stärkeren Position
  • Seit das Rahmenabkommen gescheitert ist, hat die EU in den vielen «Sondierungsgesprächen», die Leu danach wie eine Art Strafaufgabe zu absolvieren hatte, in keinem wesentlichen Punkt eine Konzession angeboten
  • Insbesondere nicht bei der Frage des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der im Zweifelsfall jeden Konflikt abschliessend zu beurteilen hätte, sofern es um den Binnenmarkt ginge. Die eine Vertragsseite stellt auch den Richter – im internationalen Kontext eine Absonderlichkeit, die nur Kolonien und besiegte Staaten kennen

Kurz, es bleibt dabei, dass die EU eine Regelung will, wo wir gezwungen sind, jegliches Binnenmarktrecht einseitig und automatisch zu übernehmen – ohne dass wir uns dagegen wehren könnten. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Unsere Demokratie würde ausser Kraft gesetzt.
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Livia Leu, eine weltgewandte und erfahrene Diplomatin, war sich dessen bewusst – und hat diese schlechten Nachrichten dem Bundesrat wiederholt überbracht. Doch im EDA, dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, mochte man davon offenbar nichts hören – nichts sehen, nichts glauben. Vielleicht wäre Cassis gut beraten, sein Amt umzubenennen:
  • Eidgenössisches Departement für die Auflösung der Eidgenossenschaft im Rahmen der EU,
  • sofern es langfristig unsere Wirtschafts-, Sozial-, Steuer-, Forschungs- und Immigrationspolitik betrifft, kurz: EDA-EU

Richtig wäre gewesen, auch die Sondierungsgespräche ergebnislos abzubrechen, da sich keinerlei Ergebnisse ausmachen liessen. Stattdessen will der Bundesrat im Juni die «Eckwerte» eines neuen Verhandlungsmandates mit der EU beschliessen. Ziel soll es sein, noch dieses Jahr formelle Verhandlungen wiederaufzunehmen und diese bis im kommenden Sommer 2024 abzuschliessen. Ein Höllenritt, der in Bern allerdings dargestellt wird, als wäre es ein Sonntagsspaziergang. Nun könnte es ja sein, dass Cassis besonders schlau vorgeht – und ich das nicht merke. Aus Bern höre ich, die «Eckwerte» könne man auch als Verschleppungstaktik interpretieren, zumal nun alle Departemente genötigt werden, ihre eigenen Schmerzgrenzen zu ertasten, gut möglich also, dass der Bundesrat am Ende erkennt, dass schon die Eckwerte zu fest wehtun, und dann von der Operation absieht. Bloss frage ich mich, was gibt es da noch zu erkennen? Wenn man den andauernden Konflikt zwischen der EU und der Schweiz diagnostiziert, dann ist es ganz einfach, die adäquaten Schlüsse zu ziehen:
  • Die Harmonisierung aller ihrer Gesetze und Regeln, die die EU intern vorantreibt, ist ihre Sache. Das ist ihr gutes Recht. Wenn sie sich als neuen Superstaat konstituieren will, indem sie unter anderem die Krümmung der Banane reguliert, dann wird sie ihre guten Gründe dafür haben
  • Es fällt ihr auch wesentlich leichter, diese supranationale, oft technokratisch bestimmte Harmonisierung ihren Bürgern aufzuerlegen, weil die meisten EU-Staaten ehemalige Monarchien sind (einzig Holland war lange eine Republik) und keine direkte Demokratie aufweisen
  • So gut wie alle wichtigen Integrationsschritte wurden von Regierungen und Parlamenten entschieden – also einer politischen Elite, ob links- oder rechtsstehend, ohne dass das Volk dazu etwas zu sagen gehabt hätte. Wurde es ausnahmsweise in einzelnen Ländern einmal gefragt, sagte das Volk in der Regel Nein
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Dieses Modell lässt sich nicht auf die Schweiz übertragen. Punkt. Wer die schweizerische Geschichte kennt, weiss das. Wer die schweizerische Politik versteht, ebenso. Wer im schweizerischen Bundesrat sitzt, dito. Neue Ansätze tun not. Soll die Schweiz weiterhin am EU-Binnenmarkt teilnehmen können, dann muss die EU darauf verzichten, von uns eine automatische Rechtsübernahme zu verlangen. Kann sie das nicht, ist es an der Schweiz, ein anderes Arrangement mit der EU zu suchen. Daran werden wir nicht vorbeikommen. Einen Zwischenweg gäbe es. Noch – ich habe es gesagt – ist die EU in der stärkeren Position. Wenn die Schweizer Diplomaten ihren Nutzen unter Beweis stellen wollen, dann sollten sie dafür sorgen, dass sich unsere Stellung gegenüber Brüssel etwas verbessert. Das ist nur möglich, indem man der EU den Eindruck vermittelt, dass die Schweiz auch Alternativen hat. Zwei Beispiele:
1. Anfang April hat Grossbritannien bekannt gegeben, dass es dem Transpazifischen Handelsabkommen (CPTPP) beitreten werde. Es handelt sich um einen der grössten Binnenmärkte der Welt; dazu zählen Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam. Insgesamt bringen sie rund zehn Prozent des globalen BIP zustande
Warum nimmt die Schweiz nicht Sondierungsgespräche auf, um einen Beitritt zu prüfen?
2. Seit die EU uns vom Forschungsabkommen «Horizon» ausgeschlossen hat, klagen die Universitäten und die Pharmaindustrie über unerträgliche Nachteile. Das mag stimmen.
Doch warum haben wir in der Zwischenzeit nicht längst ein ähnliches Abkommen mit Grossbritannien ausgehandelt und unterzeichnet? Grossbritannien weist die besten Universitäten Europas auf (die einzigen zwei, die diesen gleichkommen, befinden sich in der Schweiz) und das Brexit-versehrte Land dürfte noch so gerne bereit sein, eine Zusammenarbeit zu formalisieren, die viel weiter ginge, als was Horizon bietet Wenn ich unserem Aussenminister Ignazio Cassis einen Rat geben darf, dann würde ich ihm empfehlen, sich an Steve Jobs zu halten, dem Apple-Gründer und Apple-Genie, der einmal gesagt hat: «Deine Zeit ist begrenzt, also verschwende sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben». Ich wünsche Ihnen einen brillanten Tag Markus Somm

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