Kusters Wochenschau KW 48/21

image 2. Dezember 2021 um 16:30
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«Volksfeind» Jerome Powell zieht in den Kampf gegen den «Volksfeind» Inflation

Diese Woche hat Jerome Powell, der Chef der US-Zentralbank Fed, vor dem Kongress eingestanden, dass die Geldpolitiker die Inflationsentwicklung unterschätzt haben. Die Aufwärtsrisiken seien erheblich, der Anstieg des Preisniveaus nicht länger nur vorübergehend, stellte er fest. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert.
Zum einen bereitet Jerome Powell die Märkte und die Wirtschaft damit darauf vor, dass die Geldpolitik weniger lang so expansiv bleiben wird wie erhofft – neue Virusvarianten hin oder her. Ohne politische Rückendeckung aus dem Weissen Haus würde er dies wohl nicht tun. Und dass er diese hat, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Bevölkerung, für welche die Inflation in den letzten 20 Jahren kaum ein Thema war, heute empfindlicher darauf reagiert als früher, als man sich höhere Teuerungsraten gewohnt war.
Zum anderen kommt es selten vor, dass Notenbanker öffentlich bekennen, sich in einer zentralen Frage wie der Inflationsprognose geirrt zu haben. Powell, der vom damaligen Präsidenten Donald Trump eingesetzt wurde, ist vor kurzem von Joe Biden für eine zweite Amtszeit nominiert worden. Offensichtlich hat es Powell nicht geschadet, von Trump im Streit um die richtige Zins- und Handelspolitik öffentlich als «Volksfeind» gescholten oder mit Chinas starkem Mann verglichen worden zu sein. Apropos wenig schmeichelhafte Titulierungen: In den 1970er-Jahren hatte ein anderer US-Präsident nicht den Fed-Chef, aber die Inflation als «Volksfeind Nr. 1» bezeichnet.

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US-Präsident Gerald Ford wollte die Inflation 1974 nicht nur mit geldpolitischen Mitteln bekämpfen, sondern auch mit dem sogenannten Whip-Inflation-Now-Plan (WIN), einer Volksbewegung gegen Inflation. Bild: Keystone

Rabenschwarze Prognose aus der Erbmonarchie

Ein etwas weniger mächtiger Mann aus einem sehr viel kleineren Land als den USA oder China hat sich diese Woche in der «Finanz und Wirtschaft» zur Inflation und zu Staatsschulden geäussert. Seine Prognose ist zappenduster: «Eine schwere Krise mit allen daraus entstehenden Kollateralschäden wie einer mehr oder minder schweren Inflation, Staatsbankrotten und völlig zentralisierter Staatswirtschaft wird wahrscheinlicher sein» (als Reformen). Und weiter hält Prinz Michael von und zu Liechtenstein fest: «Wir sollten uns auf Verluste einstellen, die breite Bevölkerungsschichten treffen werden, mit gravierenden Auswirkungen auf die Parteienlandschaft und das westliche Demokratiesystem.»
Wenn es wirklich so knüppeldick kommen sollte: Liechtenstein, das mit der Schweiz seit Jahrzehnten durch einen Währungsvertrag verbunden und damit gut gefahren ist, könnte in extremis in der Geldpolitik seinen eigenen Weg gehen – vielleicht mit einem Vaduzer Taler statt dem Schweizer Franken? Ob der Prinz die Erbmonarchie mit dem Fürsten, dem politisch dominanten Landesvater, selber zum gefährdeten «westlichen Demokratiesystem» zählt, erschliesst sich aus dem Beitrag indes nicht.

ESG-Anleihenmarkt bricht Rekorde – wie nachhaltig ist das Wachstum?

Nachhaltigkeit ist nicht nur in der Politik und Wirtschaft, sondern auch an den internationalen Anleihenmärkten ein grosses Thema.
Dabei steht allerdings nicht die finanzielle Dimension der Nachhaltigkeit im Vordergrund, die beispielsweise (wohl ganz im Sinne des Prinzen) in einem vernünftigen Schuldenstand zum Ausdruck kommt – sonst könnten sich viele Staaten und Unternehmen nicht so günstig finanzieren, wie sie es heute tun. Vielmehr denken die Marktteilnehmer dabei an die Aspekte Umwelt, Soziales und Unternehmensführung, besser bekannt unter dem Kürzel ESG (Environmental, Social, Governance).
Die Investment-Banking-Spezialisten der Grossbank Unicredit rechnen damit, dass im nächsten Jahr bei ESG-Neuemissionen zum ersten Mal die Marke von 1000 Milliarden US-Dollar überschritten wird. Nach dem bisherigen Rekordwert von 880 Milliarden in diesem Jahr sollen es 2022 1300 Milliarden werden.

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Woher rührt das grosse Angebot an Anleihen mit dem ESG-Siegel, und was motiviert die Käufer? Gemäss Unicredit sind verschiedene Kräfte am Werk. Die fortschreitende staatliche Regulierung und verschärfte Transparenzvorschriften im Bereich der Nachhaltigkeit brächten immer mehr Unternehmen und andere Schuldner dazu, ESG-Überlegungen in ihre Emissionsprogramme einzubeziehen.
Mit anderen Worten: Die Regulierung stimuliert das Angebot. Zudem würden die Marktakteure, also auch die Käufer von Anleihen, sozialen Fragen immer mehr Beachtung schenken, prognostiziert Unicredit, und begründet dies mit der Pandemie, der Regulierung und dem gesellschaftlichen Druck. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein grosser Teil des Wachstums nicht auf echte Bedürfnisse von Schuldnern und Anlegern zurückzuführen ist, sondern auf staatliche Vorschriften, Anreize und Standards.
Nachdenklich stimmt auch, dass in Europa im laufenden Jahr fast viermal so viele ESG-Anleihen emittiert wurden wie in Nordamerika (das normalerweise bei Finanzinnovation führend ist) und dass die EU selber über die nächsten Jahre zur grössten Emittentin von grünen Anleihen (der wichtigsten Kategorie von ESG-Bonds) werden wird. Sie will so ihren gigantischen «Wiederaufbaufonds» finanzieren, der Europa krisenfester, digitaler und natürlich auch grüner machen soll.
Ob das alles wirklich effizient und nachhaltig ist?

Emissionskalender des Bundes – «Finanzierung mit grossen Unsicherheiten verbunden»

Am Tag, an dem jeweils das erste Türchen des Adventskalenders geöffnet werden darf (obwohl der Advent schon früher oder auch erst später beginnen kann), hat die Eidgenössische Finanzverwaltung ihren sogenannten Emissionskalender publiziert. Dieser enthält eine Liste der Termine, an denen der Bund im neuen Jahr neue Anleihen begibt (in der Regel einmal pro Monat). Ausserdem wird darin angekündigt, wie hoch das geplante Emissionsvolumen sein wird. Der Bund beabsichtigt, 2022 Obligationen im Umfang von 6 Milliarden Franken zu begeben. Da eine Anleihe über rund 3,5 Milliarden zurückbezahlt werden muss, erhöht sich damit der Gesamtbestand an Bundesanleihen um 2,5 Milliarden Franken. Am 1. Dezember waren Bundesanleihen im Umfang von rund 65 Milliarden Franken ausstehend.
Die Verschuldung des Bundes am Kapitalmarkt nimmt leicht zu, weil ein Finanzierungsdefizit erwartet wird und Mittel im Zusammenhang mit den Härtefallhilfen benötigt werden. Auch am Geldmarkt, wo sich Schuldner kurzfristig Geld beschaffen können (bis ein Jahr Laufzeit), hinterlässt die Coronakrise Spuren. Da der Finanzierungsbedarf «weiterhin mit grossen Unsicherheiten verbunden ist», wird für die Geldmarktbuchforderungen des Bundes eine aussergewöhnlich weite Bandbreite angegeben: Der Bestand soll sich 2022 zwischen 8 und 14 Milliarden Franken bewegen.

Öffentliche Finanzen sind nicht nachhaltig – trotz Rekordausschüttung der SNB

Langfristig bildet allerdings nicht die Coronaschuld die grösste Herausforderung für die öffentlichen Finanzen. Es kann schon heute als fast unumstössliche Gewissheit gelten, dass dieser Superlativ der demografischen Entwicklung gebührt. Das bestätigten die in der vergangenen Woche präsentierten «Langfristperspektiven für öffentliche Finanzen in der Schweiz 2021», die nicht 2022 enden, sondern bis 2050 reichen. Es handelt sich um eine Auslegeordnung zu den Haushalten des Bundes, der Kantone, der Gemeinden und der Sozialversicherungen, die das Eidgenössische Finanzdepartement respektive die Finanzverwaltung alle vier Jahre vornimmt.
Weil die Anzahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zur Anzahl der Erwerbsfähigen bis 2050 stark zunehmen wird, wachsen die Ausgaben nicht nur bei den Sozialversicherungen und beim Bund markant, sondern über das Gesundheitswesen und die Langzeitpflege auch bei den Kantonen. Das hat Konsequenzen: «Um die Nachhaltigkeit der AHV-Finanzen zu sichern, sind spätestens ab dem Jahr 2029 neue Reformen nötig», schreiben die Ökonomen der Finanzverwaltung, wobei sie Nachhaltigkeit mit einer im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt stabilen Schuldenquote gleichsetzen.
Auch die Nachhaltigkeit der Kantons- und Gemeindefinanzen ist gefährdet – doch entschärfen die Ausschüttungen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) die Lage für die Kantone. Die Ökonomen gehen nämlich davon aus, dass die SNB Jahr für Jahr die maximale Ausschüttung von 6 Milliarden Franken (davon 4 Milliarden für die Kantone) vornehmen kann – was angesichts der in der riesigen Notenbankbilanz schlummernden Risiken und des klaren Auftrags der SNB, den «Volksfeind Nr. 1» unschädlich zu machen (und nicht hohe Gewinne zu erzielen), doch eine ziemlich sportliche Annahme ist.

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