Kusters Wochenschau 4/2022
Russland-Ukraine: Kaufen, wenn die Kanonen (noch nicht) donnern?
An der russisch-ukrainischen Grenze herrscht Hochspannung. Strebt Russland nach der Krim und einem Teil der Ostukraine weitere Gebietsgewinne an, und wie weit ist Wladimir Putin bereit, dafür zu gehen? Nimmt er einen Frontalzusammenstoss mit dem Westen in Kauf (Somms Memos#10)? Das sind Fragen, die auch die Akteure an den Finanzmärkten beschäftigen müssen.
Geopolitik ist wieder zu einem bestimmenden Kursfaktor geworden – nicht, weil es für die Anleger relevant wäre, ob die Front in den Weiten der Ukraine 100 Kilometer weiter westlich liegt oder nicht. Vielmehr sind Sanktionen gegen Russland ein Instrument der Politik, für das nicht nur die direkt Beteiligten, sondern auch Dritte wie Investoren einen wirtschaftlichen Preis zu bezahlen haben. Entsprechend sind zurzeit Heerscharen von Ökonomen und Anlagestrategen daran, zu ergründen, wie sich der Konflikt auf die Anleihen-, Aktien-, Devisen- und Rohstoffmärkte (insbesondere Energie) auswirkt und vor allem künftig noch auswirken könnte. Wenn die Nervosität stark zunimmt, könnten sich allerdings auch Chancen für antizyklisch agierende Anleger ergeben – oder um es martialisch in einer alten Börsenwahrheit auszudrücken: «Kaufen, wenn die Kanonen donnern.»
Russische Panzer nahe Rostow - nicht vor 80 Jahren, sondern im Januar 2022. Bild: Keystone
Auch die Bonitätsspezialisten der unabhängigen Ratingagentur Independent Credit View (I-CV) setzten sich diese Woche mit diesem Konflikt auseinander (Analyse). Der Markt gehe derzeit mehrheitlich immer noch von einem glimpflichen Ausgang, also einer diplomatischen Lösung, aus. Die Stimmung wird am Handel mit Kreditderivaten (Credit Default Swap) gemessen, mit denen sich Investoren gegen einen Zahlungsausfall des russischen Staates (und damit auch staatsgarantierter und -naher Schuldner) absichern können. Die Grafik zeigt, dass die Versicherungsprämie für einen Schutz über die nächsten fünf Jahre zwar zuletzt deutlich gestiegen, aber noch weit weg von den Höhen der Krimkrise ist.
I-CV ist pessimistischer und rechnet im Hauptszenario (Wahrscheinlichkeit 50 Prozent) mit einem Einmarsch in ukrainische Teilgebiete, aber nicht mit einer vollständigen Okkupation (10 Prozent). Russlands Position sei dank hoher Devisenreserven und tiefer Verschuldung stark. Als Reaktion werde der Westen die Sanktionen verschärfen, Russland aus ausländischen Kapitalmärkten ausschliessen, Exportkontrollen einführen sowie Vermögenswerte von Unternehmen und politisch exponierten Personen einfrieren. Einen Rauswurf Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift (die wohl härteste Sanktion) erwartet I-CV jedoch nicht, weil darunter auch der Westen litte.
Daniel Pfister, I-CV-Gründer und -Verwaltungsratspräsident, weist auf die Abhängigkeit Europas von russischem Gas hin. Die Gefahr, dass es russischen Emittenten am Schweizer Anleihenmarkt (wie Gazprom und Russian Railways) oder an den grossen Bondmärkten (US-Dollar und Euro) verwehrt werde, ihre Schulden zu bedienen, sei auch deshalb klein. Allerdings prognostiziert IC-V, dass sich die Risikoprämien für solche staatsnahe Institute weiter ausweiten, also die Kurse ihrer Anleihen fallen und die Renditen steigen werden. Auch sei mit Anpassungen der Ratings für Russland durch die internationalen Agenturen Standard & Poor’s und Moody’s zu rechnen. Bei einer Eskalation könnte Russland das Siegel der Anlagequalität verlieren – derzeit liegen die Ratings mit BBB– und Baa3 haarscharf oberhalb des spekulativen Bereichs.
Und die Ukraine? Pfisters Kunden halten kaum entsprechende Anleihen, weshalb er dazu keine Beurteilung abgibt. Doch ist es kein Geheimnis, dass die Ukraine Russland nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich unterlegen ist, wegen höherer Staatsschulden und kleinerer Devisenreserven. Das Land hängt denn auch immer noch am Tropf eines Hilfsprogramms des Internationalen Währungsfonds – wo auch Russland Mitglied ist.
Coronakrise – wie gross ist der finanzielle Schaden?
Wie hoch sind die Kosten der Coronakrise? Diese Frage ist einfach zu stellen, aber schwierig zu beantworten. Sprechen wir von den direkten Kosten der Pandemie, also beispielsweise dem Aufwand für die Pflege der Erkrankten und dem (nicht eindeutig zu ermittelnden) Gegenwert der aufgrund der Todesfälle entgangenen Lebensjahre? Die meisten Verstorbenen standen nicht mehr im volkswirtschaftlich betrachtet produktiven Berufsleben; müsste somit auf der Positivseite der Entlastungseffekt für die Sozialwerke berücksichtigt werden? Geht es um die indirekten Kosten, also die Einbussen, die Unternehmen infolge der starken, seuchenpolizeilich motivierten staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben erlitten haben? Oder handelt es sich um die Kosten, die der Staat zu tragen hat, weil er die Wirtschaft stützt?
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat in einem am Sonntag publizierten Kurzbericht einen anderen, umfassenderen Ansatz gewählt. Es vergleicht die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung der vergangenen zwei Jahre mit derjenigen, die mutmasslich eingetreten wäre, wenn es die Pandemie gar nicht gegeben hätte; die Ökonomen bezeichnen dies als ein «kontrafaktisches» Szenario. Die Modellrechnungen ergeben für Deutschland einen Wertschöpfungsausfall von 350 Milliarden Euro. Der grösste Brocken entfällt dabei mit 270 Milliarden auf den privaten Konsum. Aber auch die Investitionen liegen 60 Milliarden Euro unter dem Soll, was besonders schmerzt, weil dies das künftige Wachstumspotenzial limitiert. Zusatzausgaben des Staates und Konjunkturprogramme haben geholfen, dass die Lücke nicht noch grösser ausgefallen ist.
Professor Michael Grömling, Leiter der Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur beim IW, hält auf Anfrage fest, dass es sich um eine Schätzung handelt. Deshalb werden auch nicht alle Modellwerte für die Komponenten des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausgewiesen. Immerhin entspricht der Ausfall von 350 Milliarden auf ein Jahr umgerechnet fast 5 Prozent der Wertschöpfung der deutsche Volkswirtschaft insgesamt – ein nach den Massstäben der Nationalökonomen gravierender Rückschlag.
Deutsche Gründlichkeit hat ihren Preis: Die scharfen Zutrittsregeln schmälern den Konsum und die Wertschöpfung. Bild: Keystone
Während sich das IW nicht zur Frage der Angemessenheit der Massnahmen in Deutschland äussert, hat die wissenschaftliche Task Force des Bundes zu begründen versucht, weshalb die (von ihr meist selber empfohlenen und mitgetragenen) gesundheitspolitischen Massnahmen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht in der Schweiz sinnvoll gewesen sein sollen. Auch wenn der Bericht schon ein Jahr alt ist, dürfte sich an diesem (durchaus nicht unumstrittenen) Befund wenig geändert haben. Darauf wies zumindest der Auftritt von Professor Jan-Egbert Sturm, Vizepräsident der Task Force und Leiter der Konjunkturforschungsstelle Kof an der ETH Zürich, an der bald schon rituellen Medienkonferenz der Experten von diesem Dienstag hin. Der Akademiker erteilte dem Ruf von Vertretern der realen Wirtschaft nach umgehenden Lockerungen des gestrengen Corona-Regimes eine klare Absage (Artikel).
Alpiq-Chefin lässt keinen Hauch von Selbstkritik erkennen
Mitte Januar wurde bekannt, dass dem Stromkonzern Alpiq gegen Jahresende ein Liquiditätsengpass gedroht hatte und er deshalb den Bund um finanzielle Unterstützung angegangen war. Immerhin zog der Konzern sein Gesuch am 3. Januar zurück. Am 19. Januar folgte die Mitteilung, dass man sich dank einem Massnahmenpaket – darunter insbesondere ein Liquiditätseinschuss der Aktionäre – wieder mehr Handlungsspielraum verschafft habe.
Wenige Tage danach hat sich nun auch Konzernchefin Antje Kanngiesser in der «SonntagsZeitung» erklärt. Auf die erste Frage, wie es denn soweit kommen konnte, dass Alpiq beim Bund anklopfen musste, antwortete sie:
«Das ist kein isoliertes Problem von Alpiq, sondern eine Herausforderung für die gesamte Branche. Heute sind nicht mehr nur der Öl- und der Gaspreis für steigende Strompreise ausschlaggebend, sondern verstärkt auch das Wetter und die Geopolitik. Es geht nicht mehr nur um die Frage, ob es genügend Rohstoffe hat, sondern auch darum, ob und wann geliefert wird. Konkret: Schickt man Gas durch eine Pipeline oder nicht?»
Antje Kanngiesser, Alpiq-Chefin, in der «SonntagsZeitung» auf die Frage, weshalb der Konzern den Bund um Unterstützung bitten musste
Antje Kanngiesser, seit vergangenem Jahr CEO und Vorsitzende der Geschäftsleitung von Alpiq. Bild: Keystone
Fehlt da nicht was? Doch, aber auch im weiteren Verlauf des Interviews lässt die Spitzenmanagerin keinen Anflug von Selbstkritik erkennen. Schuld an der Misere sind offenbar allein die aussergewöhnliche Lage am europäischen Gas- und Strommarkt und die Eigenheiten des Stromhandels (wo es keine Handelsunterbrüche gibt). Und der Strommarkt spielt gemäss Kanngiesser deshalb verrückt, weil Asien energiehungrig ist, Deutschland aus der Atom- und Kohleenergie aussteigen will und die Geopolitik mit dem Konflikt Ukraine-Russland reinfunkt.
Das sind etwas dürftige Argumente, ebenso wie der Verweis auf die Usanzen an den Strombörsen, mit denen Alpiq als professioneller Händler vertraut sein sollte. Oder stehen die anderen Schweizer Stromunternehmen in Bern schon Schlange? Der spitze Kommentar der NZZ von der Vorwoche, der aus der allgemein doch recht verständnisvollen Medienberichterstattung positiv hervorstach, behält seine Gültigkeit. Der Hilferuf wird darin als «unverschämt» bezeichnet, «weil sich eine solvente Privatfirma zuerst alternative Finanzierungsquellen erschliessen sollte, bevor ein Hilfeschrei an den Staat geht». Vielleicht sollte man nach diesem Interview den Satz nach «erschliessen» wie folgt noch ergänzen: «und selber an der Nase nehmen».
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Nicht verpassen: Jeden Donnerstagabend KUSTERS WOCHENSCHAU, in der ausgesuchte Ereignisse und Entwicklungen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten kompetent und knackig kommentiert werden. Dabei wird auch der Blick nach vorne nicht zu kurz kommen.