Geopolitik

Krisen machen den Staat gross – aber es gibt eine Zeit danach

image 17. September 2022 um 04:00
Wladimir Putin und Xi Jinping: Die Anführer des «Blocks der Bestraften». (Bild: Keystone)
Wladimir Putin und Xi Jinping: Die Anführer des «Blocks der Bestraften». (Bild: Keystone)
Pandemie, Energie, Klima, Flucht und Krieg – Autokraten und ihre Regimes: Die zahlreichen mehr oder weniger gravierenden Krisen unserer Zeit machen vielen Angst – und sie stärken fast automatisch den Staat. Er bekommt Aufgaben, die er lange den Privaten überlassen hat. So notwendig das sein mag: Der Westen darf dabei nicht die Prinzipien über Bord werfen, die er verteidigen will. Und es gibt ein danach, eine Zeit nach der geopolitischen Konfrontation – und die gehört wieder dem Individuum, seinen Talenten und Träumen, seiner Kreaktivität und der Innovation, die daraus entsteht.
Dreissig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges haben es alle gemerkt: Machtpolitik ist zurück. Der «ewige Friede», das «Ende der Geschichte» waren naive Hoffnungen. Wir sind aus dem Traum erwacht. Die Globalisierung, ermöglicht durch eine amerikanisch geprägte Weltordnung, wird von Autokraten und Diktatoren herausgefordert.

«Chimerica» und «Eurussia» zerfallen

Die «Pax americana» seit 1990 basierte auf zwei grossen, geostrategischen Blöcken: «Chimerica» (Niall Ferguson) und «Eurussia». Die beiden Partnerschaften funktionierten hervorragend: Die Vereinigten Staaten kauften mit Dollars billige chinesische Produkte. Die Chinesen kauften amerikanische Staatsanleihen. Die EU kaufte billiges russisches Gas. Deutschland produzierte damit teure Autos. Und trotz Aufblähung der Geldmenge blieb die Inflation tief. Das freute vor allem die USA und die Europäer, die mit billigem Geld ihre unproduktiven Wirtschaftsbereiche schonten und nötige Reformen herauszögerten.
Alle handelten mit allen. Solange man sich vertraute, ging alles gut. Doch jetzt ist das Vertrauen weg. Und ohne Vertrauen gibt es keinen funktionierenden Welthandel. Und das Ende der Ära der tiefen Inflation und billigen Energie gefährdet die Stabilität. Menschen überlegen sich, ob sie kochen oder heizen sollen, erste Unternehmen gehen vor explodierenden Energiekosten in die Knie.
Die beiden grossen geostrategischen Blöcke sind in Auflösung. China sieht sich von den USA bedrängt. Sanktionen und Zölle gefährden die chinesische Wirtschaft. Die USA fürchten einen chinesischen Angriff auf Taiwan, wo 70 Prozent der besten Chips für die USA hergestellt werden. Dort verläuft auch eine der international wichtigsten Handelswege. Russland hat die Ukraine angegriffen und damit die ohnehin schon fragile Machtbalance in Europa zerstört. «Chimerica» und «Eurussia» fallen auseinander.

Die neuen gesostrategischen Blöcke

China rückt jetzt näher zu Russland. Aus dieser Beziehung könnte eine neue wirtschaftliche Macht entstehen. Der eine hat zahlreiche Ausgangsmaterialien und das Öl, die der andere unbedingt benötigt, und der baut die Teile, welcher der erste wegen der Sanktionen des Westens nicht mehr bekommt. Diese Woche trafen sie sich in Usbekistan, um zusammen mit weiteren Staaten nicht weniger als eine «neue Weltordnung» zu besprechen.
Auch Europa und die USA rücken zusammen, allerdings vor allem, weil Europa dringend wirtschaftliche und militärische Unterstützung braucht. Es gilt wieder die alte Regel der Schulhöfe: «Der Feind meines Feindes ist mein Freund.»
Und so kommt es, dass Russland und China in der Strasse von Hormuz mit Iran Seemanöver abhalten. Iran bringt Russland und die Türkei zusammen, um den Export von Getreide aus Russland zu ermöglichen. Die beiden Länder handeln nun in Rubel. China blockiert faktisch während Tagen Exporte aus Taiwan und die Handelswege darum herum. Es ist nun der grösste Abnehmer von russischem Öl, nach Indien, das sich zwischen den Blöcken wiederfindet und sich umgarnen lässt. Südkorea kommt unter chinesischen Druck, seine Politik der «drei Nein» aufrecht zu erhalten, inklusive der Ablehnung einer zusätzlichen Stationierung amerikanischer Truppen.

Der «Block der Bestraften»

Es bildet sich ein «Block der Bestraften», der globalen «Schmuddelkinder», all’ jener Länder, die vom Westen mit Sanktionen belegt sind: Neben China und Russland auch noch Iran, Nordkorea und die Türkei, Usbekistan, Kirgisien und weitere Länder, mehrheitlich rund um China, vereint in der Shanghai Cooperation Organisation.

Der Westen wird Milliarden in vier Bereiche stecken müssen: Wiederbewaffnung, Neuerschliessung von Rohstoffen, Vorratshaltung von wichtigen Gütern und Neubau von Handelswegen und Energienetzwerken.


Die «Bestraften» haben – unter den naiven Augen des Westens – vier entscheidende Vorteile erarbeitet: Rohstoffe, Chips, Handelswege und Energienetze. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, muss der Westen Milliarden in vier Bereiche stecken: Wiederbewaffnung, Neuerschliessung von Rohstoffen, Vorratshaltung von allen wichtigen Gütern und Neubau von Handelswegen und Energienetzwerken. Ganze Industrien sollen zurückgeholt werden, hauptsächlich die Produktion von Chips (zum Beispiel in die USA, Frankreich, oder in die EU).
Selbst wenn es einem Liberalen schwerfällt zuzugeben: Diese vier Hausaufgaben werden zum grössten Teil durch den Staat, allenfalls durch Zusammenarbeit zwischen Staat und Privaten bewältigt. Und diese vier Aufgaben sind teuer und brauchen selber Rohstoffe und Energie. Die sich anbahnende Konfrontation wird neben Investitionen in Milliardenhöhe globale Allianzen brauchen, um an Rohstoffe zu kommen. Vieles ist derzeit im Fluss. Klar ist nur: Die neue geopolitische Ära wird teuer sein – und einen viel grösseren Staat zurücklassen, als wir ihn je gesehen haben.

Prinzipien des Westens hochhalten

Vermutlich sind diese vier Strategien, die Wiederbewaffnung, die Neuerschliessung von Rohstoffen, die Vorratshaltung von allen wichtigen Gütern und der Neubau von Handelswegen und Netzwerken nötig, um die Konfrontation zu gewinnen. Sie dürfen jedoch nicht die Grundprinzipien des Westens untergraben, zu deren Verteidigung wir uns anstrengen: Freiheit, Grundrechte und schlanken Rechtsstaat.

Eine neue «multipolare Weltordnung» darf es geben, wer darunter aber die Aufteilung der Welt in Interessensphären sieht, steckt geistig im imperialistischen Denken des 19. Jahrhunderts.


Und es braucht die Vorbereitung für die Zeit danach. Die «Bestraften» müssen wissen, dass sie in einer neuen Weltordnung willkommen sind. Es braucht einen Doppel-Beschluss, wie wir ihn erfolgreich aus den siebziger und achtziger Jahren kennen: Russland, China und deren Vasallen sind willkommen in der weltweiten Staatenfamilie, aber sie müssen die Souveränität anderer Länder anerkennen, selbst in geopolitischen Fragen. Eine neue «multipolare Weltordnung» darf es geben, wer darunter aber die Aufteilung der Welt in Interessensphären sieht, steckt geistig im imperialistischen Denken des 19. Jahrhunderts.

Die Privaten werden das Vertrauen wieder aufbauen

Allianzdenken mag geopolitisch kurz- und mittelfristig notwendig sein. Die Einteilung in Freund und Feind mag Politikern entgegen kommen. Die Privaten sollten genau das Gegenteil der Politik tun. Wenn wieder Vertrauen und positive Erwartungen in künftige Gewinne aus Freihandel dominieren, dann wird es sich nicht mehr lohnen, geostrategische Spiele und Kriege zu führen. Das Vertrauen können Politiker zerstören. Aufbauen müssen es wieder die Privaten und ihre Geschäftsbeziehungen.
Dazu brauchen sie liberale Rahmenbedingungen, die sie nicht behindern, sondern unternehmerische Freiheit absichern. Nur so werden wir mehr Innovation, mehr Wohlstand – und auch mehr militärische Macht erzielen als die vereinigten Autokraten dieser Welt. Ihre heutigen Vorteile in Rohstoffen, Chips, Handelswegen und Energienetzwerken sind dann geopolitisch weniger entscheidend, aber ökonomisch eine gute Voraussetzung, bei der nächsten Globalisierung Wertvolles beizusteuern.

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