Somms Memo
König Charles III. wird gekrönt – und fast die ganze Welt schaut zu. Warum eigentlich?
König Charles III. Er ist der 62. Monarch, der in den vergangenen 1200 Jahren in Grossbritannien den Thron bestiegen hat.
Somms Memo gibt's auch als kostenlosen Newsletter.
Täglich in Ihrer Mailbox.
Die Fakten: König Charles III. wird in der Westminister Abbey in London gekrönt. Geladen sind 2000 Gäste, darunter so gut wie alle Monarchen dieser Welt.
Warum das wichtig ist: Ist die Monarchie ein alter Zopf? Kaum. Sonst würden sich nicht Millionen von Menschen diese mittelalterliche Zeremonie ansehen.
Wer das Geheimnis der Monarchie ergründen möchte und nach Fragen sucht, warum wir uns im Jahr 2023 für die Krönung eines mittelmässig begabten Abkömmlings der deutschen Fürstenfamilie Sachsen-Coburg und Gothainteressieren, die sich heute Windsor nennt und in Grossbritannien herrscht, – der sollte sich in die neueste Netflix-Serie «Chimp Empire» vertiefen.
Der vielteilige, glänzende Dokumentarfilm, der in diesen Tagen zu sehen ist, zeigt das Leben einer Schimpansen-Gemeinschaft in Uganda:
- Wie sie sich gegenseitig lausen, was so zärtlich aussieht, wie wenn Menschen sich streicheln
- Oder wie alle Schimpansen-Männchen zur Generalmobilmachung einberufen werden, um danach eine benachbarte Schimpansen-Gruppe anzugreifen, die sich irgendeine Grenzverletzung hat zuschulden kommen lassen, – was an die Kriege unter den Menschen erinnert
- Vor allen Dingen lernen wir, wie komplex und hierarchisch sich die Schimpansen organisieren. Jedem Affen kommt ein Rang zu, und jeder Affe muss gut aufpassen, dass er nicht absteigt, weil der Bürokollege unbedingt an ihm vorbei befördert werden möchte
An der Spitze thront «Jackson», das Alphatier, der sich diesen Namen gemäss unseren Informationen nicht selbst gegeben hat, sondern Wissenschaftler, die ihn beobachten, haben ihn so getauft. Ihr Forschungsprojekt läuft seit Jahrzehnten.
Jackson ist der König unter den Schimpansen von Ngogo, einem Gebiet im Regenwald von Uganda.
Und jetzt kommt Charles III. ins Spiel.
- Wenn Jackson seinen Vorrang klarstellen will (oder muss, weil ihn ständig Rivalen bedrängen), dann erhebt er sich plötzlich und rennt durch den Wald, als hätte ihn eine Tarantel gestochen; die Arme majestätisch schwingend springt er einmal in die Höhe, dann greift er sich einen Ast, den er mit beeindruckender Leichtigkeit bricht, immer bleibt er in Bewegung, ein rollender Brocken im Wald, zumal kein Affe dicker und muskulöser wirkt als Jackson, und doch tut er alles sehr elegant, ja behende
- Seinen Untertanen gibt der König der Affen damit zu verstehen, was er jetzt von ihnen erwartet: Ihre Huldigung. Symbolisch haben sie sich zu unterwerfen, was sie tun, indem sie sofort alles stehen und liegen lassen, was sie gerade beschäftigt (wie etwa chilliges Lausen oder auf einem Ast ein Nickerchen zu machen), und sie sich zu Jackson begeben, um sich um ihn herum zu versammeln
- Dabei schreien sie und johlen sie – es sind kurze, sich ständig wiederholende, ohrenbetäubende Töne, die sie von sich geben
Ähnliches wird sich morgen in London zutragen, wenn Charles III. in einem uralten Ritual zum König des Vereinigten Königreiches und Nordirland gekrönt wird. Charles, das Alphatier. Und ich meine das nicht als Witz.
Tatsächlich beginnt alles mit
- «The King’s Procession», einem Umzug durch die Stadt – was dem Amoklauf von Jackson gleicht, wenn auch wir Menschen diesen Exploit seither zu einer feierlichen Kutschenfahrt umgeformt haben, schliesslich sind wir zivilisiertere Primaten als unsere Verwandten in Ngogo, doch der Zweck bleibt: Den Untertanen wird das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Immerhin muss Charles (74) nicht wie Jackson (31) selber rennen, sondern wird gefahren
- Dann zieht König Charles III. und seine Frau Camilla in die Westminster Abbey ein, einer Kirche, wo die englischen Könige seit dem Jahr 1066 gekrönt werden, es handelt sich um die 40. Krönung, die in den vergangenen gut 900 Jahren hier vorgenommen wurde
- Schliesslich darf der König die Huldigung entgegennehmen. Der Erzbischof von Canterbury wendet sich an die Untertanen, die sich in der Kirche versammelt haben, und fragt:
«I here present unto you King Charles, your undoubted King: wherefore all you who are come this day to do your homage and service, are you willing to do the same?
«Ich präsentiere Euch König Charles, Euer legitimer König. Seid Ihr, die Ihr an diesem Tag gekommen seid, um ihm zu huldigen und zu dienen, willens, das hier zu bezeugen?»
- Und die Untertanen rufen, so laut sie können: «God save King Charles!»
OK, sie schreien nicht und sie johlen nicht – und doch tun sie dasselbe, was die Schimpansen von Ngogo zu tun pflegen.
Wenn wir uns fragen, warum diese Rituale uns heute noch berühren, obschon wir im Kopf doch längst alle – auch die Briten – gute Demokraten sind, dann liegt es daran, dass wir im Bauch auf diese bewährten, evolutionsbiologischen Rituale immer noch ansprechen.
Zu Recht, denn es gehört zu den grossen Errungenschaften der Menschen und ihrer nächsten Verwandten, der Menschenaffen wie etwa die Schimpansen oder Gorillas, dass wir es im Lauf der Evolution verstanden haben, uns zu umfangreichen Gruppen zusammenzuschliessen, was allen das Überleben erleichterte. Niemand war allen anderen Tieren so überlegen wie wir Primaten:
- Hierarchien erwiesen sich dabei als Wettbewerbsvorteil
- Je grösser die Gemeinschaft, desto besser (Krieg, Ernährung)
- Und ohne komplexe Rituale halten solche grossen Organisationen nicht zusammen, dabei mögen die einzelnen Ausformungen noch so bizarr wirken (Johlen? Eine Krone? Ein Umzug?)
Man mag es bedauern, dass König Charles III. im Gegensatz zu seiner Mutter, der grossen Queen Elizabeth, nicht so viel Verständnis für diesen Traditionsbestand beweist und manche Vorgänge etwas verschlankt hat:
- Der ganze Anlass dauert nur etwa eine Stunde – früher nahm eine Krönung drei bis vier Stunden in Anspruch
- Aus Rücksicht auf die angespannte Finanzlage in Grossbritannien hat Charles III. bloss 2000 offizielle Gästeeingeladen. Als die Queen 1953 gekrönt wurde, kamen 8000 Gäste
- Ebenso hat der neue König den zeremoniellen Vorrang der Church of England relativiert. Allerlei Prälaten, Priester oder Imame anderer Konfessionen und Religionen dürfen sich ebenfalls in Szene setzen, um den multikulturellen Charakter Grossbritanniens zu unterstreichen
Charles, der so lange Jahre warten musste, bis er König wurde, hatte auch viel Zeit, sich dem Zeitgeist zu unterwerfen. Allerlei Geschmäcklicheres und Pseudo-Modernes-Wokes dürfen wir von ihm auch in Zukunft erwarten.
Die Monarchie wird es überleben – und selbst die Briten sehen es ihm nach, wenn auch ihr Interesse für die Krönung gemäss Umfragen unterdurchschnittlich sein soll, (sofern das stimmt).
Wenn Charles seine Untertanen aber enttäuscht hat, dann mit dem Krönungsmenu:
- Eine Quiche!
- Also französisch
- Pfui Teufel!
Seit Tagen gibt diese sogenannte Coronation quiche in England zu reden. Man schüttelt den Kopf, man zeigt sich angeekelt, man vermisst den Patriotismus. Als jemand dann noch mutmasste, eine Quiche sei streng genommen gar nicht französischer Herkunft, sondern gehe auf den deutschen Gemüsekuchen zurück, war der Zapfen ab, zumal König Charles III. fast ausschliesslich deutsche Vorfahren besitzt.
- Haben wir dafür den Zweiten Weltkrieg gewonnen, dass wir nun deutschen Gemüsekuchen essen müssen? Fragte sich manch ein Brite
Die Queen liess 1953 übrigens Coronation chicken auftischen. Das Rezept wurde legendär, Millionen von Briten haben es seither nachgekocht, so dass es Dutzende von Variationen gibt. Das dürfte mit der Quiche von Charles nicht passieren.
98 Prozent der DNA des Menschen und des Schimpansen sind identisch.
Unter den zwei Prozent, die den Unterschied ausmachen, so darf man annehmen, befindet sich auch die Quiche.
«God save the King!»
Ich wünsche Ihnen – in der Mehrheit wohl Eidgenossen – trotz alledem ein republikanisches Wochenende
Markus Somm