Somms Memo
King Coal. Kaum je zuvor wurde so viel Kohle genutzt, um Strom zu gewinnen
Kohlemine in China.
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Die Fakten: China hat 2023 so vielen Kohlekraftwerken die Baubewilligung erteilt wie nie zuvor, in Indien ist der Anteil der Kohle an der Stromproduktion gewachsen.
Warum das wichtig ist: Wer hat da vom Sturz der Kohle gesprochen? Wohl noch nie wurde auf der Welt so viel Kohle verbrannt. King Coal.
Ende des 19. Jahrhunderts, als die Elektrizität aufkam, erschien in einem Artikel des Badener Tagblattes eine Betrachtung zum nahen Ende der Herrschaft der Kohle:
- «Wir können nicht davon ausgehen, dass die Kohle noch lange ausreicht», teilte der Korrespondent den aufmerksamen Badenern mit, die sich plötzlich für Energiepolitik interessierten, seit sich 1891 die BBC (heute ABB) in ihrem lauschigen Kurort niedergelassen hatte
- Daher sei es wichtig, auf die Elektrizität umzuschwenken, womit der Autor den Badenern schmeichelte: Sie befanden sich bereits auf der richtigen Seite der Geschichte. Eben hatten sie an der Limmat ein Wasserkraftwerk errichten lassen (der erste Auftrag der BBC)
- Zwar nannte der Journalist kein Verfalldatum für die Kohle – aber er liess durchblicken, dass wir uns bald von ihr entwöhnen müssten: 1910? 1950? Jedenfalls stand die Erschöpfung der Kohleminen unmittelbar bevor
2020 lag der Anteil der Kohle am gesamten Energieverbrauch der Welt bei 55 Prozent. Kein Rohstoff lieferte uns mehr primäre Energie:
- Öl kam auf 28 Prozent
- Erdgas auf 6,7 Prozent
- Wasserkraft: 4,5 Prozent
- Kernkraft: 1,2 Prozent
Und ja, die so unendlich leistungsfähigen Erneuerbaren, die uns in zwei, drei Jahrzehnten vor dem Klimawandel retten werden, steuerten 4,5 Prozent bei. Phänomenal:
- Solar: 1,6 Prozent
- Wind: 1,7 Prozent
- Übrige (Biomasse, Geothermie, Bio-Treibstoffe): 1,2 Prozent
Das sind Zahlen, die jeder Politiker, insbesondere Balthasar Glättli von den Grünen, auswendig lernen müsste, um sie jeden Abend wie ein Gebet vor dem Zubettgehen zu wiederholen:
- Kohle unser, die Du bist nicht im Himmel, sondern auf Erden
Denn entgegen dem, was man so hört, wenn man die üblichen Medien nutzt, ist jede Nachricht vom Tode der Kohle stark übertrieben:
- Kohle stellt nicht nur mehr Energie sicher als alle anderen Rohstoffe und Energieerzeuger zusammen, 55 versus 45 Prozent
- Vielmehr hat sie in den vergangenen Jahren auch nicht an Bedeutung verloren, obwohl alle Zeitungsvolontäre dieser Welt seit Jahren von ihrem Niedergang berichten und den Aufstieg von Wind und Sonne vermelden: 2020 lag der Anteil der Kohle bei 55 Prozent Und wo lag er 2009? Bei 55 Prozent
Wenn der Krieg in der Ukraine noch lange andauert, dürfte dieser Anteil sogar wachsen, zumal Erdgas und Erdöl teurer geworden sind, seit die Russen ihren Nachbarn überfallen haben. Insbesondere China und Indien, die zweitgrösste und die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt, haben reagiert.
- China hat den einheimischen Kohleabbau deutlich hochgefahren, um seine Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen aus dem Ausland zu reduzieren. Die Fördermengen erreichten 2022 Spitzenwerte
- Und China setzt unverdrossen auf Kohle, um Strom zu gewinnen. Im ersten Quartal 2023 haben die chinesischen Provinzregierungen mehr Baubewilligungen für neue Kohlekraftwerke ausgesprochen als im gesamten 2021, das seinerseits schon ein Rekordjahr dargestellt hatte. Das ergab eine Studie von Greenpeace East Asia
- 63 Prozent des gesamten Stroms in China stammt aus Kohlekraftwerken (2022)
In Indien stellen sich die Dinge noch unerfreulicher dar – aus Sicht des Westens, der sich doch so bemüht, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen.
- Nach einem heissen Sommer und einem ungewöhnlich kalten Winter sah sich die indische Stromwirtschaft gezwungen, viel mehr Strom als je zuvor zu produzieren. Dabei verliess man sich auch hier in erster Linie auf die Kohle. Das zeigt eine Analyse der britischen Nachrichtenagentur Reuters
- Die zahlreichen Kohlekraftwerke lieferten im Fiskaljahr 2022/2023 12,4 Prozent mehr Strom als vorher, das entsprach der grössten Steigerung seit drei Jahrzehnten. Es ging so viel Kohle in Flammen auf wie nie zuvor. Womit auch die CO2-Emissionen von Indien jeden Rekord brachen
- Zugleich fuhr man die Stromerzeugung mit Gas um 29 Prozent herunter, weil Gas kostspieliger geworden war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Russen ihr Gas den Indern inzwischen zu einem Vorzugspreis verkaufen. Hätte man Gas statt Kohle eingesetzt, wäre viel weniger zusätzliches CO2 freigesetzt worden
- 72 Prozent des Stroms in Indien kommt aus Kohlekraftwerken (2020)
Angesichts der Tatsache, dass China und Indien inzwischen sehr viel mehr CO2 emittieren als der Westen, kann man sich fragen, was die vielen internationalen Klimaabkommen bringen? Während der Westen Velowege baut und seinen Bürgern das Fleisch verleidet, in der Meinung, damit den Klimawandel abzubremsen, verbrauchen China und Indien fossile Brennstoffe, als wäre nichts geschehen. King Coal und King Oil bitten zum Tanz.
Gewiss, man kann einwenden, wir hätten nun zweihundert Jahre lang das Gleiche getan, und es sei eine Frage der Fairness, dass jetzt auch der «globale Süden» Kohle und Öl verbrennen darf. OK. Aber ich habe gemeint, es sei fünf vor zwölf fürs Klima? Eigentlich können wir uns diese Fairness nicht mehr leisten, wenn die Lage denn so ernst wäre.
Offensichtlich glauben die Inder und Chinesen das nicht. Zwar kündigen sie treuherzig an, die Erneuerbaren auszubauen, womit sie unsere Grünen zu Tränen rühren, aber mit mehr Begeisterung und Entschlossenheit bauen sie die Stromproduktion mit Kohle und Gas aus.
- Für jedes neue Solarpanel, das sie einem europäischen Umweltminister vorführen, der sie dann lobt wie einen braven Hund, der einen Stecken zurückgebracht hat – für jede neue Solaranlage stellen sie vier, fünf Kohlekraftwerke daneben, die sie allerdings nur dem indischen Energieminister zeigen
Sind wir im Westen Idioten? Ich überlasse die Antwort meiner geneigten Leserschaft.
Oder wie es die amerikanische Fantasy-Autorin Cassandra Clare einmal ausgedrückt hat, nachdem sie des Plagiats überführt worden war:
«Es ist nicht gegen das Gesetz, ein Idiot zu sein.»
Ich wünsche Ihnen einen herrlichen Tag
Markus Somm