Somms Memo

Ist die EU nichts anderes als die Schweiz von 1848? Unsinn.

image 13. September 2023 um 10:02
Bürgerkrieg in der Schweiz: Gefecht zwischen den Truppen der Tagsatzung und dem Sonderbund bei Meierskappel, 23. November 1847.
Bürgerkrieg in der Schweiz: Gefecht zwischen den Truppen der Tagsatzung und dem Sonderbund bei Meierskappel, 23. November 1847.
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Die Fakten: 1848 wurde der schweizerische Bundesstaat geschaffen. Die Kantone gaben ihre jahrhundertalte Souveränität auf. Warum das wichtig ist. Manche sagen: Die EU tut nichts anderes. Ist die EU also eine etwas grössere Schweiz? Nein. 3 Gründe. Dass die Schweiz ein Vorbild für Europa sein könnte, lag für jene, die seit dem Ersten Weltkrieg eine Einigung des ganzen Kontinents anstrebten, schon immer auf der Hand:
  • Vier Kulturen, darunter drei der wichtigsten in Europa
  • Protestanten und Katholiken, ja, verschiedene Religionen (wobei man die Juden selten hervorhob)

Hatte die Schweiz nicht längst erreicht, was Europa sich wünschte? Genauso bemühten sich jene tapferen, aber hoffnungslosen Europa-Freunde, die unser Land in die EU bringen wollten, den Schweizern die Angst vor der EU zu nehmen, indem sie behaupteten, die EU vollziehe nichts anderes als das, was die damals 22 Kantone 1848 getan hatten.
Zum Beispiel Roger de Weck, ein unermüdlicher EU-Promotor, bestand immer darauf: Die Schweiz von 1848 gleiche in mancher Hinsicht der EU von heute.
  • Ein Zusammenschluss ehemals souveräner Staaten (die Kantone),
  • die sich früher in den Haaren gelegen waren, ja sogar einen Krieg gegeneinander geführt hatten (Sonderbundskrieg)
  • War nicht genau das gleiche zwischen den europäischen Staaten geschehen? Ihr «Bürgerkrieg» dauerte allerdings etwas länger – von 1914 bis 1945 (die zwei Weltkriege)

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Wenn de Weck das auch nicht explizit sagte, dann meinte er es wohl:
  • So, wie die Konservativen in der Schweiz die Revolution von 1848 nicht aufzuhalten vermochten – so wird es jenen ergehen, die sich gegen die europäische Einigung stemmen
  • Und die euroskeptischen Schweizer der Gegenwart wirken wie die verschrobenen Innerschweizer, die etwas länger brauchten, um einzusehen, was der Lauf der Geschichte bringt

The Big Picture: Wir wollen nicht zu streng sein. De Weck ist ein Ökonom, kein Historiker. Was er – und viele andere Europhile (darunter allerdings auch Historiker) verbreiten, ist Unsinn. Das Gegenteil trifft zu. Die EU hat eben gerade nicht erreicht, was die Schweiz 1848 vollbracht hatte. Drei Gründe:
1. Der neue Bundesstaat von 1848 zog eine nationale Ebene ein:
  • Eine Regierung (Bundesrat), die über den Kantonen stand. Sie erhielt uneingeschränkt den Durchgriff – dort, wo die Verfassung ihr das zugestand (das war zu Anfang nicht viel)
  • Ein Parlament, das aus zwei Kammern bestand, das vom ganzen Volk bestimmt wurde (sofern Männer, sofern Christen) – und welches die Regierung wählte, die damit mit der Legitimation des gesamten Volkes ausgestattet war

Das ist in der EU nicht der Fall. Faktisch regiert der Europäische Rat und die EU-Kommission. Während letztere so gut wie nicht gewählt ist (EU-Regierungen nominieren die Kommissare, EU-Parlament darf bestätigen), setzt sich der erstere aus den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zusammen. Diese werden allein in ihren Heimatländern gewählt, also von jeweils einem Teil der gesamten EU-Bevölkerung. Es wäre, wie wenn der Ständerat in der Schweiz die Regierung bildete. Das EU-Parlament (die Repräsentantin des Volkes) wird damit übergangen. Es ist ein Parlament der Ohnmacht. Ein Parlament In Name Only. Kurz, die EU besitzt keine reale «nationale» Ebene, die den Regierungen der Mitgliedstaaten übergeordnet wäre. Ironischerweise gleicht die EU damit eher der Eidgenossenschaft vor 1848, wo die Kantonsregierungen das Sagen hatten. Wie die alte Eidgenossenschaft ist die EU ein Staatenbund, kein Bundesstaat.
2. Der neue schweizerische Bundesstaat erhielt eigene Einnahmen, zu Beginn vor allem die Zölle und das Postregal
  • Das war entscheidend. Ohne eigenes Geld ist jede Regierung ein Papiertiger
Genau dieses Schicksal hat die EU-Kommission (die eigentliche Regierung) getroffen. Sie besitzt keine eigenen Einnahmen, sondern ist auf die Gunst der Netto-Zahler unter den Mitgliedstaaten angewiesen (also in erster Linie von Deutschland) Das wäre, wie wenn der Bundesrat von den Kantonen Zürich und Zug allein abhinge, wann immer er eine nationale Ausgabe beschliessen möchte.

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3. Dem Bundesrat wurde die alleinige Kompetenz in der Aussen- und in der Verteidigungspolitik und bei der Armee übertragen (die Kantone behielten ein paar wenige Aufgaben)
  • Im 19. Jahrhundert war nichts wichtiger. Ein Haushalt eines normalen europäischen Staates bestand im Wesentlichen (zu einem Drittel) aus Militärausgaben
  • Wenn es einen Grund gab, warum die Radikalen und die Liberalen den Bundesstaat so rasch als möglich verwirklichen wollten, dann lag er genau darin: Es ging darum, die Schweiz militärisch und aussenpolitisch zu stärken. Ihr Überleben schien in Gefahr in einer Zeit der grassierenden Rivalität unter den Grossmächten

Auch das hat die EU eben gerade nicht: Eine Regierung, die die Aussen- und Verteidigungspolitik in eigener und abschliessender Verantwortung machen kann. Vielmehr bleibt diese die Prärogative der nationalen Kabinette in den Mitgliedsländern. Von neuem wirkt die EU wie die alte Eidgenossenschaft: Hier betrieb jeder Kanton seine eigene Aussenpolitik – ohne dass die Tagsatzung viel zu melden hatte. Sie koordinierte die Terminplanung, so wie das heute die EU-Kommission tut. Wenn Emmanuel Macron allein zu Wladimir Putin reist, dann wäre das, wie wenn heute Mario Fehr, ein Zürcher Regierungsrat, in Moskau verhandeln möchte – und Putin ihn sogar empfängt. Kurz, wer meint, die EU sei eine Schweiz von 1848, irrt, und wer hofft, die EU werde einmal wie die Schweiz von 1848, der hofft wohl vergebens. Und sollte das auch. Denn ohne Bürgerkrieg oder Krieg – das lehrt die Geschichte der Schweiz von 1848 – ist noch selten ein neuer Staat entstanden. Es sei denn, Louis Quatorze, der Sonnenkönig, habe doch recht gehabt, als er sagte: «Ich könnte eher Europa einigen als zwei Frauen zu versöhnen.» Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag Markus Somm

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