Somms memo
In Amerika wird Roe v. Wade aufgehoben. Es ging nicht um Abtreibung
Frauen demonstrieren vor dem Supreme Court in Washington für das Recht auf Abtreibung.
Die Fakten: Der Oberste Gerichtshof der USA hebt Roe v. Wade auf, ein Urteil aus dem Jahr 1973, das die Abtreibung national legalisierte.
Warum das wichtig ist: Entgegen dem, was man liest und hört, geht es nicht um Abtreibung, sondern um die Frage, wer macht die Gesetze in Amerika?
Selten hat ein Urteil des amerikanischen Supreme Courts so zu reden gegeben, wie das Urteil Roe versus Wade, das im Jahr 1973 ergangen ist. Obwohl in der Verfassung nie ein explizites Recht auf Abtreibung festgeschrieben worden war, leiteten die höchsten Richter ein solches daraus ab, – mit Folgen, die wohl niemand vorausgesehen hatte:
- 49 Jahre lang hat diese Frage Amerika gespalten. Familien zerstritten sich, Freundschaften zerbrachen, Politiker hätten sich Gift geben können. Das Urteil hinterliess ein politisches Seuchengebiet, wo unvereinbare Ansichten über Moral, Gott und die Selbstbestimmung der Frau sich wie Schwermetalle ablagerten
- Das Schwermetall liess sich nie mehr entsorgen
- Im Gegensatz zu Europa. Hier hatte die Abtreibung die Menschen noch in den 1970er Jahren genauso entzweit, doch irgendwann in den 1990er Jahren verlor die Frage ihren Stachel. Man einigte sich in den meisten Ländern Westeuropas auf eine pragmatische Lösung, die inzwischen von klaren Mehrheiten getragen wird
Warum dieser Unterschied?
Er ist darauf zurückzuführen, dass der Supreme Court 1973 die Demokratie untergrub, indem er das Parlament und die Bundesstaaten in einer so emotionalen, weltanschaulichen Frage entmachtete. Die Judikative masste sich an, faktisch ein neues Abtreibungsrecht zu schreiben, statt dies der Legislative zu überlassen, wie es die Verfassung vorsah.
- Der Oberste Gerichtshof, der die Verfassung schützen sollte, brach selbst die Verfassung. Es missachtete die Gewaltenteilung
- Die neun Richter nahmen sich heraus, was den gewählten Volksvertretern zustand, sei es im Kongress (dem Bundesparlament in Washington) oder in den Parlamenten in den Bundesstaaten – zumal die Gesundheitspolitik zu ihren Domänen zählt
1973 wurden alle, die die Abtreibung skeptisch ansahen, um ihre Stimme gebracht. Seither sannen sie auf Rache – und weil neun Richter entschieden hatten, was Millionen von Amerikanern oder immerhin deren Volksvertreter hätten entscheiden sollen, wuchs die Schar der Abtreibungsgegner ins Unermessliche
- Ohne Roe v. Wade stellten die Abtreibungsgegner heute wohl eine kleine Minderheit dar – wie in Europa. Stattdessen stiegen sie innerhalb der Republikanischen Partei zu einer Vetomacht auf. Gewiss, die Amerikaner sind auch religiöser – auch das trug zu ihrem Durchbruch bei
- Roe v. Wade führte dazu, dass in Amerika eine Bewegung von brillanten, aber konservativen Juristen aufkam – wie wir das in Europa kaum kennen. Sie kämpften 49 Jahre gegen ein Urteil, das sie als einen Verfassungsbruch betrachteten – was sie immer besser zu begründen verstanden
- Und weil Roe v. Wade den amerikanischen Föderalismus ausgehebelt hatte, setzten manche Bundesstaaten seit 1973 ebenso alles daran, dieses Urteil umzustossen. Wer in den USA die Staaten gegen sich hat, tut sich keinen Gefallen – so wie in der Schweiz niemand unnötig die Kantone reizt
Wenn Roe v. Wade etwas erreichte, dann bloss die Bestätigung eines politischen Naturgesetzes: Wer seine Macht überzieht, stärkt damit die Gegenmacht, die ihn am Ende von der Macht vertreibt.
Das widerfuhr nun dem Obersten Gericht. Das widerfuhr aber auch der Demokratischen Partei, die allzu lange auf das Oberste Gericht vertraute – und nur auf das Gericht, wenn es um das Recht auf Abtreibung ging
- Statt im Kongress ein solches Recht mit demokratischen Mitteln durchzusetzen, zitterten die Demokraten nun jedes Mal, wenn ein Bundesrichter starb – und ein Republikanischer Präsident im Amt war, der jetzt womöglich einen Nachfolger ernannte, der Roe v. Wade anders sah
- Wenn jetzt auf Umfragen verwiesen wird, wonach eine Mehrheit der Amerikaner eine liberale Abtreibungsregelung wünschte, dann mag das ja stimmen. Umso dringender stellt sich dann die Frage: Warum haben die Demokraten das Gesetz nicht längst geändert? Es gab seit 1973 immer wieder Jahre, da die Demokraten Kongress und Weisses Haus beherrschten. Von 1955 bis 1995 besassen sie ununterbrochen die Mehrheit im Repräsentantenhaus
- Stattdessen wurde jede Nominierung für das Oberste Gericht zu einem Kampf um Leben und Tod mit den Konservativen. Kippte die Mehrheit, drohte die Gefahr, dass auch Roe v. Wade fiel
So kam es, wie es kommen musste. Irgendwann würde sich im Supreme Court eine Mehrheit gegen Roe v. Wade herausbilden. Dass ausgerechnet Donald Trump das zustande brachte, der bei den Demokraten am meisten verhasste Politiker seit Stalin, Hitler und Pol Pot: Es macht die Niederlage, die sie letzte Woche erlitten, zur Katastrophe.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich halte das Schweizer Abtreibungsrecht für eine gute Lösung: pragmatisch, so restriktiv bzw. grosszügig wie nötig, vor allen Dingen, demokratisch breit abgestützt:
- Das Volk hat vier Mal darüber abgestimmt (!), das Parlament noch öfter, bis ein Konsens erreicht war
- Das dauerte gut dreissig Jahre. Eine lange Zeit. Dafür war dieser Konsens am Ende so breit wie der Alpenbogen: 72,2 Prozent des Stimmvolkes nahmen 2002 die Fristenlösung an
Darin liegt das Geheimnis der Demokratie. Wenn man deren Regeln und Verfahren ernst nimmt, dann kann man Berge versetzen, selbst die Alpen, wo wir vermeintlich so konservativen Schweizer wohnen.
An diesem Glauben fehlte es der kleinen Elite von neun Männern, die 1973 ihr Urteil im Fall Roe v. Wade fällten, im Glauben, etwas Gutes zu tun. Tatsächlich haben sie mehr zur Polarisierung ihres Landes beigetragen, als sie sich das wohl je hätten vorstellen können.
Sie sind nicht mehr am Leben. Ein Trost bleibt. Voltaire. Der grosse französische Aufklärer sagte:
«Alle Menschen sind klug – die einen vorher, die anderen nachher.»
Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Tag
Markus Somm