Somms Memo
Ignazio Cassis, Aussenminister der Galaxien. Warum will er mit der EU verhandeln?
Bundesrat Ignazio Cassis im Gespräch mit Maroš Šefčovič, dem für die Schweiz zuständigen EU-Kommissar.
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Die Fakten: Der Bundesrat will bis Ende Juni ein neues Verhandlungsmandat mit der EU vorbereiten. Den Lead hat das EDA.
Warum das wichtig ist: Ohne Not hat sich der Bundesrat auf ein Himmelfahrtskommando begeben. Besonders die FDP muss sich fragen, was ihr Aussenminister tut.
Wenn wir schon bei den religiösen Metaphern sind:
- Weil ihm der Aufenthalt im Fegefeuer nicht mehr länger zusagte, hat der Bundesrat beschlossen, in die Hölle zu wechseln
Denn neue Verhandlungen mit der EU wenige Monate vor den Nationalratswahlen können eigentlich nur scheitern:
- Bei den wichtigsten Streitpunkten – Personenfreizügigkeit, Unionsbürgerrichtlinie und Streitbeilegung – hat die EU bisher wenig Konzessionsbereitschaft gezeigt
- Gleichzeitig haben sich die Fronten im Inland nicht verändert: Die SVP stellt sich gegen jede institutionelle Bindung, wogegen die Gewerkschaften jede Lösung beim Lohnschutz ablehnen, bei der der Europäische Gerichtshof (EuGH) in irgendeiner Weise Einfluss nimmt
Mit anderen Worten, was des Pudels Kern betrifft, hat sich weder der Pudel bewegt noch der Kern.
Wer die Verhandlungen für ein neues Rahmenabkommen in den vergangenen Jahren verfolgt hat, ist entweder erschöpft oder verwirrt. Überdruss und Konfusion.
Worum geht es eigentlich?
Es sind zwei Fragen, auf die es ankommt, beide sind grundsätzlicher Natur:
1. Soll die Schweiz die sogenannte automatische Rechtsübernahme akzeptieren? Darunter versteht man den Wunsch der EU, dass die Schweiz das gesamte, sich ständig fortentwickelnde Recht, das die EU mit Blick auf ihren Binnenmarkt erlässt, ins eigene Recht überführt – ohne dass Parlament, Volk oder Stände etwas dagegen ausrichten könnten. Es sei denn, die Schweiz nähme Sanktionsmassnahmen der EU in Kauf.
Zurzeit kennen wir eine solche Regelung nur beim Schengen-Abkommen. Neu würde es alle bestehenden bilateralen Abkommen (I und II) sowie auch künftige Verträge umfassen.
Konkretes Beispiel: Der Lohnschutz im Rahmen der flankierenden Massnahmen wäre auf Dauer nicht mehr sicher, da es der EU unbenommen bliebe, jederzeit die entsprechenden Regeln zu ändern – ohne dass sich die Schweiz dagegen wehren könnte. Daher rührt der kategorische Widerstand der Gewerkschaften
2. Streitbeilegung. Wenn sich die Schweiz und die EU nicht einig sind, wie das Binnenmarkt-Recht der EU auszulegen ist, soll zwar zuerst ein Schiedsgericht entscheiden – doch das letzte Wort stünde dem Europäischen Gerichtshof EuGH zu, sofern Binnenmarkt–Recht betroffen ist, also faktisch immer.
Von diesem Prinzip ist die EU bisher nicht abgerückt. Ausnahmen schliesst sie aus. Ebenso wenig sind SVP oder Gewerkschaften bereit, Kompromisse hinzunehmen
Solange das so ist, hat ein neues Rahmenabkommen kaum Aussicht auf ein längeres Leben als das alte Rahmenabkommen, das im Mai 2021 vom Bundesrat kassiert worden war. Wer SVP und Gewerkschaften in einer Volksabstimmung gegen sich weiss, kann sich jede Kampagne ersparen. Er verliert sowieso.
Warum will der Bundesrat sich trotzdem auf neue Verhandlungen einlassen? Wir können nur spekulieren.
- Dem Vernehmen nach soll das Gespräch, das Ignazio Cassis (FDP) unlängst mit dem für die Schweiz zuständigen EU-Kommissar Maroš Šefčovič in Bern geführt hat, so freundlich-friedlich verlaufen sein, dass unser Aussenminister frische Zuversicht geschöpft hat
- Ebenso half, dass die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) am letzten Freitag bekannt gegeben hat, man unterstütze neue Verhandlungen. Erstaunlicherweise fiel dieser Entscheid einstimmig. Einstimmiger Surrealismus
Ich weiss nicht, wer Ignazio Cassis den Rat gegeben hat, auf neue Verhandlungen zu drängen, ich vermute dahinter seine in der Regel europhilen Diplomaten im EDA, die sich um schweizerische Innenpolitik etwas so fachmännisch kümmern, wie ein Sanitärinstallateur ein Dach flicken könnte.
Tatsache ist, dass Cassis damit sich selbst und besonders seiner Partei, der FDP, ein Osterei ins Nest gelegt hat, das niemand je wiederfinden will:
- Die EU ist für die FDP kein Wahlschlager – die meisten Schweizer sind zwar zufrieden mit den Bilateralen, nur wenige wollen aber mehr Souveränität abgeben. Jede übertriebene Annäherung an die EU stösst auf Skepsis. Sobald den Wählern klar wird, dass unsere direkte Demokratie auf dem Spiel steht, wird das Rahmenabkommen von neuem zum Kassengift Die FDP als Europa-Partei? Dass diese Losung dem Freisinn hilft, glaubt in der FDP nur noch Christa Markwalder
- Stattdessen stärkt Cassis damit die Konkurrenz des Freisinns: Allen voran die GLP, der er gleichsam offiziell bestätigt, hinter ihrer Euro-Fata Morgana locke ein See, wo doch nur die Wüste brütet. Zweitens die SVP, für die die EU und ihre Zumutungen immer einen Hit darstellen Schliesslich treibt Cassis mit seinen überstürzten Verhandlungen FDP und SVP auseinander, was unter dem Strich nur der Linken nützt
Will die FDP die Wahlen noch gewinnen – oder gilt nun das Prinzip Todessehnsucht? Untergang und Chaos.
Es ist hohe Zeit, dass sich FDP-Präsident Thierry Burkart wieder einmal bei Cassis erkundigt, auf welchem Planeten er Aussenpolitik betreiben will.
- Mars (Entfernung von der Erde: 400 Millionen km)
- oder Pluto (7000 Millionen km)?
Wenn es um den Weltraum geht, gilt jedenfalls nach wie vor, was der amerikanische Astronaut Alan Shepard sagte:
«Als ich zum ersten Mal auf die Erde zurückblickte und auf dem Mond stand, weinte ich».
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag
Markus Somm