Somms Memo

GLP in den Bundesrat? In 400 Jahren

image 16. August 2022 um 10:00
Jürg Grossen, Berner Nationalrat und Präsident der Grünliberalen.
Jürg Grossen, Berner Nationalrat und Präsident der Grünliberalen.
Die Fakten: Die GLP will in den Bundesrat – wenn sie in den nächsten Wahlen 2023 auf über 10 Prozent Wähleranteil gelangt.

Warum das wichtig ist: Worauf kommt es bei Bundesratswahlen an? Auf Mathematik oder Politik? Die Erfahrung zeigt: Politik.


Jürg Grossen, Berner Nationalrat und Präsident der Grünliberalen, sah sich für zwei Tage auf allen Kanälen zitiert, nachdem er in der NZZ am Sonntag über die Ambitionen seiner Partei gesprochen hatte:
«Wenn wir bei den nächsten Wahlen einen Wähleranteil von über zehn Prozent und eine entsprechende Sitzzahl im Parlament erreichen, dann erheben wir Anspruch auf einen Bundesratssitz
Ist das eine solche Sensation?
Die erhöhte Aufmerksamkeit mag damit zu tun haben, dass die GLP wohl die mit Abstand beliebteste Partei der Welt ist – nicht bei den Wählern unbedingt, sondern bei den Journalisten.
Grün und liberal?
Es ist genau jene Mischung, die die Journalisten, in der Regel ehemalige Nostalgie-Linke, die älter, also konservativer geworden sind, aus ihrem Dilemma befreit. Denn auf wen sollen die Journalisten sonst noch hoffen?
  • Die SP wirkt noch älter als ihre Grossväter, auch wenn diese in lässigen Turnschuhen den Rollator schieben
  • Wogegen die Grünen ihnen wie die eigenen unerzogenen Kinder vorkommen: man liebt sie, man hasst sie
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Gewiss, sollte die GLP in den Nationalratswahlen 2023 auf über zehn Prozent wachsen, wäre das ein beeindruckender Erfolg, und ohne Frage gehört es zu den Ritualen der schweizerischen Politik, dann den Bundesrat anzugreifen. Trotzdem muss man Jürg Grossen entgegnen: Nice try
  • Vor der GLP stünden wohl die Grünen im Gespräch, die schon heute 13,2 Prozent Wähleranteil aufweisen und deren Fraktion 35 Mitglieder umfasst
  • Die GLP kam in den letzten Wahlen auf 7,8 Prozent und stellt bloss 16 Nationalräte. Im Ständerat ist sie gar nicht vorhanden

Zu Recht hat Gerhard Pfister, der Präsident der Mitte, heute im Nebelspalter darauf hingewiesen, dass keine Partei in den Bundesrat einziehen kann, die im Ständerat so schwindsüchtig oder gar nicht vertreten ist.
Womit Pfister ein bloss scheinbar formalistisches Argument vortrug, tatsächlich geht es um die Macht. Viele Journalisten und (grüne oder grünliberale) Politiker verkennen, wie oft gerade die Ständeräte eine Bundesratswahl entscheiden.
  • Es sind 46 Stimmen
  • Und es sind Tenöre in der eigenen Partei, die oft singen (und wählen), wie es ihnen passt

Vor allen Dingen ist der Ständerat gleichberechtigt wie die grosse Kammer. Das heisst, jedes Gesetz, das der Nationalrat beschliesst, muss auch vom Ständerat gutgeheissen werden. Mit anderen Worten: Ein einzelner Bundesrat, dessen Partei im Ständerat nicht vorkommt, ist arm dran.
  • Er wird für seine Vorlagen im Ständerat kaum je eine Mehrheit finden, weil er stets zu 100 Prozent auf die anderen Parteien angewiesen bleibt
  • Ein solcher Bundesrat dient keiner Regierung – also auch nicht dem Land
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Wenn es darum geht, die Mechanik der Konkordanz zu verstehen, ist das der ausschlaggebende, sozusagen systemische Punkt. Nicht das Volk wählt den Bundesrat, auch nicht eine einzelne Partei, sie mag noch so gross sein, sondern die anderen, gegnerischen Parteien. Und es gilt:
Eine Partei ist in der Schweiz dann im Bundesrat vertreten, wenn sie gross genug ist,
  • Dass die übrigen Parteien nicht auf sie verzichten können, wenn sie Mehrheiten bilden wollen. Das ist die positive Kraft, die eine Partei verkörpert
  • Oder man nimmt sie in den Bundesrat auf, weil sie sonst zu viel Ärger macht. Das ist das negative Potential einer Partei. Nichts macht mehr Eindruck als die ständige Obstruktion

Natürlich kommt hier unsere direkte Demokratie zum Tragen.
Zwar kann eine Partei im Parlament den übrigen Kräften das Leben schwer machen, doch an den Rand des Nervenzusammenbruchs (oder darüber hinaus) bringt sie sie nur dann, wenn sie Volksabstimmungen gewinnt, insbesondere Referenden.
Das ist die Höchststrafe in der direkten Demokratie.
Wenn die Mehrheit des Parlaments befürchten muss, dass ihre Gesetze, an denen sie jahrelang gearbeitet hat, allzu häufig vom Volk kassiert werden, weil eine oppositionelle Kraft immer wieder das Referendum ergreift, dann steigt zuerst die Frustration, dann der Druck, eine solche Partei endlich zur Vernunft zu bringen.
Und das heisst in der Regel:
  • Man beteiligt sie an der Macht
  • Man gibt ihr einen Bundesratssitz – mit allen Sinekuren für parteinahe Karrieristen, was auch dazu gehört

Die Macht ist gewaltig, die Macht ist süss.
So gesehen wirkt Grossens Anspruch auf einen Bundesratssitz surreal. Selbst wenn die GLP im Jahr 2023 deutlich über zehn Prozent kommen würde: Beide Bedingungen, die ich erwähnt habe, erfüllt sie wohl noch lange nicht.
Die Partei der Harmlosen:
  • Im Parlament kann man sie leicht ignorieren, solange sie den Ständerat nur von der Zuschauergalerie her kennt
  • Direktdemokratisch betrachtet kämpft die GLP in der Klasse der Fliegengewichte. Und ohne jeden Erfolg. Noch nie hat sie ein Referendum alleine ergriffen und gewonnen, noch nie eine Volksinitiative durchgebracht
  • Ihre Volksinitiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» kam auf 8 Prozent (2015). 92 Prozent der Schweizer lehnten sie ab. Kein Kanton stimmte zu

Wer hat Angst vor der GLP? Niemand. Deshalb dürfte sie noch lange Zeit nicht im Bundesratszimmer sitzen. 50 Jahre, 400 Jahre? Was tun?
Die GLP, die Lieblingspartei der Journalisten, wird nur dann im Parlament umworben, wenn sie sich zuerst verhasst macht.
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Gustav Gründgens als Mephisto in Goethes Faust.
Vielleicht sollte sich Jürg Grossen, der allzu liebenswürdige Berner Oberländer, an Goethes Mephisto halten, der sich so beschrieb:
«Ich bin ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. …
Ich bin der Geist, der stets verneint!»

Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag Markus Somm

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