Somms Memo

Gibt es in der Schweiz eine Cancel Culture? Aber sicher. Für Hösis. Wer sich nicht wehrt, ist selber schuld.

image 28. März 2023 um 10:00
Hörsaal in der Universität Zürich und Bewohner. Herrscht hier die Heilige Inquisition?
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Die Fakten: Eine Umfrage hat untersucht, ob die Cancel Culture auch an Schweizer Unis herrscht. Ein Drittel der Professoren traut sich nicht, die eigene Meinung zu sagen. Warum das wichtig ist: Muss man sich um die Forschungs- und Meinungsfreiheit Sorgen machen? Oder sind unsere Professoren Hösis? Wohl stimmt beides. Wenn der Tages-Anzeiger wissen will, ob sich die sogenannte Cancel Culture auch an den Schweizer Hochschulen verbreitet hat, dann ist eine gewisse Skepsis angebracht:
  • Macht sich der Bock hier nicht selber zum Gärtner?
  • Will heissen: Gerade die Journalisten dieser Zeitung stehen oft an erster Stelle, wenn es darum geht, Gesagtes als Unsagbares zu denunzieren

Immerhin ist zu anerkennen: Die Autoren des Tagi bemühten sich um Neutralität, was sie damit unterstrichen, dass sie einen deutschen Literaturwissenschaftler (Adrian Daub, Stanford University) damit beauftragten, die Ergebnisse einzuordnen, was dieser recht sorgfältig und differenziert tut. Im Rahmen der Umfrage wurden alle 3425 Professoren der Schweiz angeschrieben, 542 antworteten. Das ist nicht repräsentativ, und doch aufschlussreich.
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Natürlich redet auch Daub die Resultate meines Erachtens klein. Bei näherem Hinsehen halte ich sie für dramatisch:
  • Auf die Frage, ob es Tabus in der Forschung gebe, entgegneten 10 Prozent mit Ja
  • Konkret heisst das, so berichtete ein befragter Professor, dass er versuche, es «so weit als möglich zu vermeiden, Forschungsarbeiten durchzuführen, die die Arbeitsmarktleistung von Frauen mit der von Männern vergleichen»
  • Oder man verzichtet darauf, die «psychischen Vor- und Nachteilen von Geschlechtsidentitäten, Geschlechtsanpassungen oder Verzicht auf Identitäten» zu untersuchen, wie eine andere Betroffene erzählt – aus Furcht, da alles «so politisch besetzt sei»

10 Prozent erforschen also etwas lieber nicht – selbst wenn sie den Gegenstand für interessant oder relevant halten. Der Wert mag klein wirken, aber im 21. Jahrhundert, etwa vierhundert Jahre nach Galileo Galilei, ist das ein niederschmetternder Befund. Wie kann es sein, dass nach so langer Zeit der völlig unbestrittenen Forschungsfreiheit ein Wissenschaftler sich zwei Mal überlegt, was er an der Universität in Angriff nimmt?
Noch bedrückender ist eine weitere Erkenntnis, die vielleicht darauf hinweist, wo das Problem auch herrührt:
  • «Zensieren Sie sich je selbst?» wurden die Professoren gefragt
  • Und bloss 38 Prozent antworteten mit Nein
  • Wogegen 22 Prozent sich «manchmal» die Zunge abbeissen, 9 Prozent das «oft» tun, und 4 Prozent gar «sehr oft»
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Mit anderen Worten, die Schere im Kopf kommt recht häufig zur Anwendung, und das nicht etwa, weil eine allfällig negative Reaktion der Studenten oder der Öffentlichkeit den Professoren den Angstschweiss auf die Stirn triebe, sondern, weil die «lieben Kollegen» womöglich intervenieren:
  • 23 Prozent glauben, es seien die Kollegen, die ihnen die Meinungsfreiheit beschnitten
  • 19 Prozent halten die Universitätsleitung für imstande, das zu tun

Kurz, ein gutes Drittel unserer Professoren (sofern die Umfrage mehr oder weniger zutrifft) traut sich nicht immer zu sagen, was sie denken. Die Gedanken sind frei? Anscheinend nicht, und das erfahren wir im Jahr 2023 des Herrn, der, wie man weiss, seinerzeit ebenfalls wegen vorlauter Bemerkungen zum Thema Religion gekreuzigt worden ist.
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Gewiss, zum Nennwert kann man diese Aussagen nicht nehmen, zumal sie anonym gefallen sind, und die Umfrage nur bei einer Minderheit auf Interesse stiess, was darin begründet sein mag, dass die aktivsten und konservativsten Hochschullehrer, die sich am meisten über die Cancel Culture aufregen, in überdurchschnittlichem Masse teilgenommen haben – was die Ergebnisse erfahrungsgemäss verzerrt. Trotzdem gibt das keinen Anlass zur Entwarnung. Gerade wenn es um Gedankenfreiheit geht, verschwinden die Symptome nicht, selbst wenn sie von den übrigen Beobachtern, nämlich der Mehrheit der (oft linken) Professoren, als paranoid oder überzogen betrachtet werden. Die Wahrnehmung ist souverän. Wo kommen wir hin, wenn eine Minderheit sich vor der Mehrheit fürchtet? Etwas Zweites muss uns Sorgen machen. Warum wehren sich die Professoren, die unter der Cancel Culture leiden, so selten?
  • Bei allem Twitter-Lärm und Facebook-Getöse: Was kann einem denn passieren, wenn man sagt, was andere stört?
  • Die Linke lebt ja gerade davon, dass sie mit lächerlichen bis harmlosen Methoden maximale Einschüchterung erreicht
  • Das bringt sie nur zustande, weil sich die Andersdenkenden so leicht aus der Fassung bringen lassen

Mit anderen Worten, die Dissidenten müssen lernen, den inneren Hösi zu besiegen. Oft ist nämlich nur das: Die vorschnelle Unterwerfung unter ein Diktat der Angsthasen. Denn die Linke selbst hat doch Angst vor guten Argumenten, ansonsten sie nicht alles täte, dass sie sie nicht hören muss.
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Galileo Galilei (1564 – 1642), Ketzer und Genie.
Galileo Galilei war übrigens auch etwas ein Hösi. Nachdem er in seinem «Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano» (Dialog von Galileo Galilei über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische) angedeutet hatte, dass er zum Team Kopernikus neigte, der bekanntlich behauptete, die Erde drehe sich um die Sonne und nicht umgekehrt, kam Galileo Galilei bei der Heiligen Inquisition mächtig unter Druck. Sogleich gab er nach und schwor seinen Fehlern ab, er verfluchte und verabscheute sie, was ihm immerhin ersparte, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Angesichts solcher Aussichten war er vielleicht doch kein Hösi. Immerhin soll er beim Hinausgehen aus dem Gerichtsgebäude gesagt haben: «Eppur si muove» – und sie [die Erde] bewegt sich doch! 1992 gab ihm der Vatikan recht. Und er wurde rehabilitiert. Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag Markus Somm

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