Somms Memo
German Angst: Warum fürchten sich die Deutschen vor dem Klimawandel wie kaum ein anderes Volk?
Deutsche kleben sich in Berlin an den Boden, in der Hoffnung, die Welt gehe dann nicht unter. (Bild: Keystone)
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Die Fakten: Niemand fürchtet den Klimawandel so sehr wie die Deutschen: 31 Prozent, wie eine weltweite Umfrage zeigt. In Israel sind es 2 Prozent.
Warum das wichtig ist: Ganz gleich, was objektiv der Fall ist: Es ist auch eine zutiefst deutsche Tradition, die Welt stets kurz vor dem Untergang zu sehen.
Martin Luther, der grosse deutsche Reformator, hatte ein eigentümlich gelassenes Verhältnis zum Weltuntergang:
- «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.»
Das Zitat ist weltberühmt – und besonders die Deutschen liebten es, nachdem sie ihr eigenes Land während des Zweiten Weltkriegs diesem Untergang um wesentliche Schritte nähergebracht hatten. In den Trümmern ihrer Städte sitzend, zitierten sie Luther gerne, bevor sie in die Hände spuckten und das Land wiederaufbauten – ganz im Sinne Luthers.
Wenn Luther das nur je gesagt hätte. Tatsächlich, so fand ein renommierter Lutherforscher bald heraus, stammte das Zitat gar nicht von Luther, sondern war im 19. Jahrhundert erfunden worden. Es bleibt zwar schön, aber Luther hätte wohl das Gegenteil behauptet:
- Er freute sich eher auf den Weltuntergang, zumal dies die Wiederkunft Christi beschleunigen würde
- Wenn die Menschen also gar darauf hinarbeiteten: umso besser. Das passte zu Luther, der ohnehin zu den Skeptikern zählte, was das Wirken der Menschen auf dieser Erde betraf
Er war zwar ein Revolutionär und Wegbereiter der Moderne, aber diese Moderne, besonders wenn sie Kapitalismus und Technologie mit sich zog, schätzte er und seine Nachfolger in den Pfarrhäusern des Deutschen Reiches nie so richtig. Über Jakob Fugger (1459-1525), den reichsten und ruchlosesten Kapitalisten seiner Zeit, sagte er:
- «Man müsste wirklich den Fuggern und dergleichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen»
- Ein anderes Mal verglich er Jakob Fugger und dessen Verhalten gegenüber Konkurrenten mit einem «Hecht, der im Wasser die anderen Fische» schluckt
Martin Luther (1483-1546), Held des Protestantismus, Prophet des Anti-Kapitalismus.
Angesichts der Tatsache, dass kaum ein Mensch mehr Einfluss auf das deutsche Bürgertum genommen hat als Luther, insbesondere auf das deutsche Bildungsbürgertum, also Pastoren, Professoren und Beamten, erstaunt es vielleicht wenig, dass Deutschland schon immer eine der geistigen Zitadellen des Anti-Kapitalismus und der anti-modernistischen Romantik gewesen war.
Ebenso wenig überrascht, dass die Grünen, die die Natur vor diesem Kapitalismus und seiner Moderne in Schutz nehmen wollen, als politische Bewegung in Deutschland entstanden sind – nicht ausschliesslich, aber doch im Wesentlichen.
- In keinem grossen Land des Westens sitzen die Grünen in der Regierung – ausser in Deutschland – und das zum wiederholten Male
- Und so wurde Deutschland auch zum Land der Energiewende, die inzwischen weltweit in der deutschsprachigen Welt nachgeahmt wird
Eine aktuelle Umfrage von Ipsos, einem international tätigen Marktforschungsunternehmen, in diversen Ländern belegt, wie ernst die Deutschen den Weltuntergang in seiner neuesten Ausprägung nehmen:
- 31 Prozent der Deutschen halten den Klimawandel für äusserst besorgniserregend
- Wogegen nur 16 Prozent der ganzen Weltbevölkerung das so sehen
- In Israel finden bloss 2 Prozent, man bräuchte sich um das Klima Sorgen zu machen
Die einstigen Exportweltmeister sind inzwischen die Weltmeister der Angst.
Selbst, wenn man der Auffassung ist, beim Klimawandel handelte es sich um ein Problem – und das ist es ohne Zweifel – dann müsste sich die Welt darin doch auch einig sein. Dennoch reicht das Spektrum von 31 Prozent bis zu 2 Prozent. Ein grotesker Unterschied.
Wer hat recht? Die intelligenten Deutschen oder die nicht weniger intelligenten Israelis?
Studiert man die Umfrage etwas genauer, sticht heraus, dass die Menschen in den westlichen Ländern in der Regel mehr Befürchtungen äussern als alle andern:
- Das mag am Wohlstand liegen
- Wer wie etwa die Argentinier die etwa 285. Wirtschaftskrise erlebt hat, setzt andere Prioritäten als Velowege und Wärmepumpen. 2 Prozent der Argentinier halten die Klimaerwärmung für gefährlich, die übrigen 98 Prozent lässt er kalt
- Mit anderen Worten, man muss sich eine Grüne Partei auch leisten können
Dass allerdings nicht nur der Wohlstand darüber entscheidet, wie man den Klimawandel beurteilt, zeigt sich am Beispiel der USA – das nach wie vor eines der reichsten Länder der Welt darstellt, weitaus reicher auch als Deutschland.
- Hier sind es trotzdem bloss 20 Prozent, die sich ähnlich besorgt zeigen wie die Deutschen
Liegt es also doch an Luther?
Bedauerlicherweise hat Ipsos die Schweizer nicht befragt. Vielleicht wären wir, die Musterknaben, dann auch die Musterknaben der Angst: Gemäss jüngstem Sorgenbarometer der Credit Suisse (2022) finden jedenfalls gar 39 Prozent der Schweizer, nichts gebe ihnen mehr zu Denken als der Klimawandel.
Ein schockierendes Ergebnis. Zwingli, der zeitlebens den Kapitalismus verteidigt hat und die Menschen sogar am Sonntag zum Arbeiten anhielt, hätte sich im Grabe umgedreht.
Oder auch nicht, da er, obwohl ein Demokrat, auch das wusste:
«Die grosse Zahl macht nicht die Wahrheit.»
Ich wünsche Ihnen einen fantastischen Wochenstart
Markus Somm