Ein Jahr nach dem russischen Überfall

Gegen die Logik des Krieges

image 24. Februar 2023 um 21:08
Eine Frau fotografiert eine Installation aus ukrainischen Fähnchen zum Gedenken an die getöteten Soldaten. (Bild: Keystone)
Eine Frau fotografiert eine Installation aus ukrainischen Fähnchen zum Gedenken an die getöteten Soldaten. (Bild: Keystone)
Vor einem Jahr überfiel die russische Armee die Ukraine. Der von langer Hand geplante Überfall, die «Spezialoperation», hatte zum Ziel, die Regierung in Kiew zu stürzen und die Ukraine der Einflusssphäre Russlands, später wohl dem neuen Zarenreich selbst einzugliedern.
Das scheint am Anfang zu gelingen. Fallschirmjäger erobern wichtige Flughäfen. Panzer und Truppen überqueren die Grenze von Norden, Osten und Süden und stossen tief in die Ukraine vor. Die Amerikaner bieten dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an, ihn auszufliegen. Es ist der Tiefpunkt für die Ukraine, der Triumph der Gewalt ist nahe. ​​Doch Selenskyi ist nicht bereit, kampflos zu gehen. «The fight is here; I need ammunition, not a ride».
Zwei Tage später beim ukrainischen Botschafter in Bern: Der Mann hat seit der Invasion kaum geschlafen. Vor der Botschaft stapeln sich chaotisch Kisten mit Hilfsgütern, bereit zum Transport in die Ukraine. Dort halten eilig mobilisierte Truppen und Milizionäre Panzer auf. Wie lange noch, ist völlig unklar. Der Ring der Angreifer zieht sich um die ukrainische Hauptstadt zu.

Härtetest für die Neutralität

Der Schweizer Journalist kann dem Botschafter nicht viel helfen, ausser mit Handynummern von Politikern, Beamten und möglichen Helfern aus der Zivilgesellschaft. Er sagt ihm auch, dass die Schweiz wegen der Neutralität keine Waffen liefern kann. Dafür betont er – mehr hoffend als wissend – dass sie für die Ukraine trotzdem von Nutzen sein kann. Moralischer Anspruch und neutralitätspolitische Möglichkeit driften so weit auseinander, dass es einen fast zerreisst. Die Neutralität macht uns in so einer Situation hilflos. In Friedenszeiten ist Neutralität nicht schwierig.
Ein Jahr später demonstrieren links-grüne Kreise für «Frieden» und gegen Putin. Es sind zu einem grossen Teil die Gleichen, die seit dem Ende des Kalten Krieges (oder noch länger) einem naiven Pazifismus huldigen und Waffen und Armeen grundsätzlich ablehnen. Rüstung und Waffenindustrien haben sie bekämpft, sodass in Westeuropa kaum noch Verteidigung möglich ist. Moralische Überlegenheit in der gegenwart ist ihnen wichtiger als andauernde militärische Sicherheit.

Pazifismus bringt Fremdherrschaft

«Frieden schaffen ohne Waffen» haben sie gerufen und «Make Love not War». Für die Ukraine hätte das vor einem Jahr bedeutet, sich zu ergeben. Das Land hätte Selbstbestimmung, Demokratie und den Weg aufgegeben, nach Zarenreich und Kommunistenherrschaft eine offene Gesellschaft zu werden. Ja, es wäre längst Frieden in der Ukraine, aber unter der Logik des Krieges.
Die Ukrainer haben sich anders entschieden. Sie kämpfen für ihr Land. Dank Waffen hauptsächlich aus den USA und Grossbritannien bis jetzt mit Erfolg. Mehr denn je orientieren sie sich nach Westen. In einer Umfrage sprechen sich 87 Prozent für einen Beitritt zur EU und 86 Prozent für einen Beitritt zur Nato aus. Und vor allem: Sie bezahlen seit einem Jahr einen unglaublich hohen Preis für diesen Wunsch. Auch dieser Preis ist die Logik des Krieges. Aber es ist eine Logik mit Aussicht auf einen Frieden in Selbstbestimmung. Die Ukraine will «Frieden schaffen mit Waffen». Es ist ihr gutes Recht.

Von Schafen und Wölfen

Die wichtigste Erkenntnis ein Jahr nach der russischen Invasion: Gegen die Logik des Krieges schützt nur Bewaffnung – und zwar paradoxerweise in Friedenszeiten. Die Ukraine hat in den Neunzigerjahren auf ihre Atomwaffen verzichtet, für ein Stück Papier, mit dem Russland dessen Grenzen anerkannt hat. Es war ein Fehler. 2008 lehnten Deutschland und Frankreich aus Rücksicht auf Russland einen Beitritt der Ukraine in die Nato ab. Es war ein Fehler. 2014 dachte der Westen, dem Diktator in Moskau gehe es nur um die Krim und ein paar Provinzen im Donbass. Es war naiv. Vor einem Jahr waren die Pazifisten geschockt. Jetzt demonstrieren sie wieder, fordern aus ihren warmen, sicheren Stuben die Ukraine (seltsamerweise nie Russland) zu Verhandlungen auf. Oder sie fordern die Lieferung von Waffen und Munition, die sie vor Kurzem noch verteufelt haben.
«Pazifisten sind wie Schafe, die glauben, der Wolf sei ein Vegetarier», soll der französische Chansonnier Yves Montand gesagt haben. Die Logik des Krieges kennt keine vegetarischen Wölfe. Den Putins dieser Welt ist mit Plakaten und Sprechchören nicht beizukommen. Der Krieg in der Ukraine ist eine Warnung. Eine Warnung vor dem Pazifismus.

#WEITERE THEMEN

image
Energieversorgung

Maros Sefcovic hält Atomkraft für unentbehrlich

25.9.2023

#MEHR VON DIESEM AUTOR

image
Bern einfach

Läderach, Medien und ihre Schlagseite, Einheitskasse, Monaco, Münze

25.9.2023