Somms Memo

Exodus aus Russland: Wie lange kann das Land den Brain-Drain noch verkraften?

image 5. Juni 2023 um 10:00
Moskau, Hauptstadt der Auswanderung. Seit mehr als hundert Jahren vertreiben die Russen ihre fähigsten Einwohner.
Moskau, Hauptstadt der Auswanderung. Seit mehr als hundert Jahren vertreiben die Russen ihre fähigsten Einwohner.
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Die Fakten: Rund 1,3 Millionen Russen haben 2022 wegen des Ukraine-Krieges ihre Heimat verlassen, die meisten sind hochqualifiziert. Warum das wichtig ist: Wie lange kann es sich ein Land leisten, seine besten Leute zu verlieren? Offenbar lange. Seit 1917 tut Russland nichts anderes. 1922 bestiegen 228 Russen in Petrograd (heute St. Petersburg) zwei Schiffe, die sie nach Stettin bringen sollten, einer Hafenstadt, die damals noch in Deutschland lag. Hinterher nannte man die beiden Schiffe die «Philosophendampfer»:
  • Denn bei den Passagieren handelte es sich vorwiegend um sogenannte «Intellektuelle», Leute mit Verstand und guter Ausbildung, Unbequeme auch, zu Neugierige sicher, vor allem zu Vorlaute
  • Womit sie sich den Zorn von Wladimir Illjitsch Lenin zugezogen hatten, dem neuen kommunistischen Diktator, der einst selber als Intellektueller im Exil gelebt hatte und deshalb das Zarenregime, von dem er vertrieben worden war, als unmenschlich und verkommenempfunden hatte

Wer schickt schon seine eigenen Landsleute weg? Das war vor der Revolution. Nach der Revolution liess Lenin alle, die sich gegen ihn stellten, entweder gleich umbringen oder er vertrieb sie wie räudige Hunde. Mehr als zwei Millionen flohen nach Westeuropa und Amerika, zwischen 7 und 12 Millionen wurden auf Lenins Befehl getötet. Darunter waren die Besten, die Russland damals zu bieten hatte. Da das Land eigentlich kaum ein Bürgertum kannte, bestanden die Eliten aus vielen speziellen Minderheiten, die dem Regime nun alle überflüssig erschienen, zum Beispiel:
  • Die Aristokratie. Gewiss, viele waren verwöhnte Snobs, die an der französischen Riviera das Leben genossen, aber genauso viele sorgten dafür, dass das Land vorankam. Sie führten die Regierung, verwalteten das Reich, investierten ihr Geld in Russland. Lenin vertrieb die Hälfte der Adligen, die andere Hälfte liess er töten. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hat ein Land seine eigene Elite faktisch vernichtet
  • Die Deutschen. Sie lebten vorwiegend im Baltikum und stellten mit dem baltischen Adel eine der wichtigsten Militäreliten des Zarenreiches. Im 19. Jahrhundert bestand noch ein Drittel des gesamten Offizierskorps der russischen Armee aus Deutschen. Eine ebenso wichtige Rolle spielten sie als Unternehmer, Ärzte und Professoren. Nach 1917 waren sie unerwünscht. Ausserdem wurden die drei baltischen Staaten zunächst unabhängig, bis sie 1940 von Stalin annektiert wurden. Die dort verbliebenen Deutschen liess er deportieren

Was 1917 begann, sollte sich wie eine schlechte Angewohnheit in der russischen Geschichte festsetzen. Wann immer ein neues Regime kam, aus welchen Gründen auch immer: Das Land büsste dabei stets einen grossen Teil seiner Talente und Genies ein.
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Offenbar ist es nun wieder so weit. Seit Wladimir Putin, der neue Zar, im Kreml herrscht, gelingt es ihm kaum, gute Leute zu halten, geschweige denn fähige aus aller Welt dazu zu bewegen, nach Russland zu kommen.
  • Schon vor dem Krieg verlor Russland fortwährend Einwohner, die sich anderswo nach einem besseren Leben umsahen
  • Seit Putin jedoch die Ukraine überfallen hat, kehren die Russen in Scharen ihrem Land den Rücken
  • 2022 verliessen 1,3 Millionen ihre Heimat, das ist ein relativer Rekord, der an die traurigen Rekorde der Vergangenheit erinnert

Wenn sich die Geschichte wiederholt, dann auch, was die Zusammensetzung der Flüchtlinge anbelangt. So gut wie alle sind hochqualifiziert, ehrgeizig und jung, wobei ein wesentlicher Teil von ihnen in der IT-Industrie tätig war.
  • Gemäss Angaben der russischen Regierung verliessen seit Kriegsbeginn rund 100 000 IT-Spezialisten das Land
  • Das entspricht ca. 10 Prozent der gesamten Beschäftigten in der IT-Industrie. Mit allerlei Massnahmen, wie zum Beispiel subventionierten Hypotheken, versucht die Regierung nun, die auswanderungswilligen Experten umzustimmen

Gewiss, Russland wirkt wie ein Wal, der alles verdaut: Plastik, Schrott, Dreck, Schwermetalle – aber irgendwann muss sich auswirken, dass dem Land seit mehr als hundert Jahren unablässig intellektuelle und unternehmerische Substanz abhandenkommt. Irgendwann lässt sich das nicht mehr ersetzen.
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Wer die russischen Wirtschaftszahlen der vergangenen Jahre studiert, kann darin die nötige Bestätigung erkennen: Abgesehen von der Öl– und Gasindustrie blüht in Russland fast nichts mehr – ausser der Korruption und einem weinerlichen Nationalismus. Was es bedeutet, wenn man seine besten Talente nicht pflegt, zeigt das Beispiel einer weiteren Minderheit, die zu den unentbehrlichen Eliten des Landes gezählt hat: die Juden.
  • Vor dem Ersten Weltkrieg, um 1900, lebten 4 Millionen Juden im Zarenreich, das war mit Abstand die grösste jüdische Gemeinschaft der Welt
  • Heute sind es noch etwa 165 000

Und obwohl die jüdische Minderheit dem Land – wie anderswo auch – unendlich viele Talente geschenkt hat – Wissenschaftler, Nobelpreisträger, Mathematiker, Ingenieure, Schriftsteller, Künstler – wurde sie eigentlich nie gut behandelt – bis vielleicht auf die kurzzeitige Ausnahme unmittelbar nach der Revolution. Man mochte die Juden nicht im orthodoxen Russland, man schätzte sie nicht in der kommunistischen Sowjetunion, auch wenn man das kaum zugab. Selbst nach dem Holocaust, nachdem die Deutschen Millionen von russischen Juden getötet hatten, sahen sich die sowjetischen Politiker kaum veranlasst, die Juden besser zu stellen. Sie wurden weiterhin diskriminiert, geplagt und an der Ausreise gehindert – als wäre nichts geschehen. Dabei wäre die Sowjetunion ohne jüdisches Talent ausserstande gewesen, den Rüstungswettlauf mit den USA auch nur annähernd zu bestehen. Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, kam die Quittung. Über eine Million Juden wanderten aus, die meisten nach Israel, wo sie die IT-Industrie aufbauten (Start-up-Nation), viele nach den USA, wo sie das Silicon Valley beflügelten. Wer zieht Nutzen aus dem jüngsten Exodus? Die Schweiz bisher nicht. Es scheint Zeit, sich mehr um die russischen Flüchtlinge zu kümmern.
Lenin lebte vor dem Ersten Weltkrieg vorwiegend in der Schweiz, sowohl in Bern als auch in Zürich. Hier verbrachte er seine Zeit oft in der Zentralbibliothek, wo er seine toxischen Texte schrieb, die Russland zerstören sollten. Vielleicht hätten wir ihm besser eine dauernde Anstellung angeboten. Russland wäre wohl glücklicher geworden. Lenin begann, was Putin nach wie vor umsetzt: «Die Freiheit ist etwas Wertvolles», sagte Lenin, «So wertvoll, dass man sie nur portionenweise vergeben darf.» Ich wünsche Ihnen einen fantastischen Wochenbeginn Markus Somm

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