Somms Memo

EU: Wer nichts zu sagen hat und viel verdienen will, wird am besten EU-Parlamentarier. Von den Freuden der Korruption.

image 15. Februar 2023 um 11:00
Eva Kaili, ehemalige Vizepräsidentin des europäischen Parlamentes, zurzeit in Haft.
Eva Kaili, ehemalige Vizepräsidentin des europäischen Parlamentes, zurzeit in Haft.
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Die Fakten: Das EU-Parlament hat wenig zu sagen – dennoch verdienen die Abgeordneten viel. Dank Nebeneinkünften kommen einige auf über eine halbe Million Euro im Jahr. Warum das wichtig ist: Politik muss ein Ehrenamt bleiben. Sobald sie zu einem Beruf wird, ist die Korruption nicht weit. Eine Warnung für die Schweiz. Als am 9. Dezember 2022 die belgische Polizei bei der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Eva Kaili, eine Hausdurchsuchung vornahm, stiess sie auf Säcke voller Bargeld, – und bei ihrem Vater tauchte ein Koffer voller Banknoten auf:
  • Insgesamt stellten die Justizbehörden 1, 5 Millionen Euro sicher – in 16 Hausdurchsuchungen bei diversen Beschuldigten, unter anderem bei Kailis Lebenspartner Francesco Giorgi, der als Assistent eines italienischen EU-Parlamentariers ebenfalls für die EU tätig war
  • Kaili, eine griechische Sozialdemokratin, wurde an Ort und Stelle verhaftet. Sie weinte. Kurz darauf verhörte man sie über fünf Stunden lang. Nachträglich protestierten ihre Anwälte: Sie sei nicht vernehmungsfähig gewesen, da unter Schock und in Schrecken. Ausserdem habe ein Dolmetscher gefehlt, der aus dem Französischen ins Griechische übersetzte. Kaili lebt seit 6 Jahren in Brüssel. Die Stadt gilt als französischsprachig

  • Bald wurde bekannt, dass Katar hinter dem Geld steckte. Die reichen, aber unbeliebten Golfscheichs hatten damit EU-Politiker bestochen. Anscheinend mit Erfolg: Kaili hatte noch vor kurzem im Parlament eine Rede gehalten und Katar für dessen einwandfreie Menschenrechtsbilanz gelobt. Es gebe keinen Grund, Katar Vorhaltungen zu machen. Zu jener Zeit richtete Katar die Fussball-WM aus – und stand in der Kritik wegen seiner homophoben Politik und anderer Verfehlungen
  • Am 10. Dezember, einen Tag nach der Verhaftung, suspendierte das EU-Parlament Kaili von ihrem Amt, vier Tage später wählte man sie formell ab, obschon für sie die Unschuldsvermutung galt. Ihre sozialdemokratische Fraktion schloss sie aus

Seither ist es in Brüssel nicht ruhiger geworden. Inzwischen sind weitere EU-Abgeordnete festgenommen worden, und Kaili sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft. Sie beklagt sich über die Haftbedingungen. An einem Tag sei sie 16 Stunden in eine schlecht geheizte Einzelzelle gesperrt worden. Ihre Anwälte sprechen von «Folter»: «Man verweigerte ihr eine zweite Decke und nahm ihr den Mantel weg. Das Licht in der Zelle war ständig an und hinderte sie am Schlafen. Sie hatte ihre Menstruation mit starken Blutungen, es ging ihr schlecht, und sie durfte sich nicht waschen. Das ist Folter».
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Natürlich redet in Brüssel alles von einem Einzelfall, der sich möglicherweise um ein paar weitere Einzelfälle vermehren könnte, dabei wissen alle, dass hinter dem Einzelfall ein systemisches Problem liegt. Wenn es Politiker gibt, die man bedauern muss, weil sie den falschen Beruf verfehlt haben, dann die EU-Parlamentarier:
  • Objektiv gesehen verfügen sie über wenig Macht. Wenn in der EU die Musik spielt, dann in der EU-Kommission, im Europäischen Rat und im Ministerrat, wo faktisch Exekutive und Legislative fusioniert worden sind. Im EU-Parlament wird viel geredet, wenig beschlossen und so gut wie nichts endgültig entschieden. Die Staatschefs und Minister der EU-Staaten haben das letzte Wort, kaum je die EU-Parlamentarier
  • Und weil sie wenig Macht besitzen, geniessen sie in der Heimat auch wenig Ansehen, noch werden sie beachtet. Wenn EU-Wahlen stattfinden, dann bleiben die Bürger in den EU-Staaten meistens zuhause, zumal sie nicht unter dem Eindruck stehen, es komme darauf an, wer sie in Strassburg und Brüssel «vertritt». (Das EU-Parlament tagt jeweils in beiden Städten abwechslungsweise, was dem Prestige der Institution auch nicht hilft)

Umso weniger Macht, umso mehr Geld ist offenbar vonnöten, um Politiker überhaupt dazu zu bewegen, sich fürs EU-Parlament zur Verfügung zu stellen. Eine Art Schmerzensgeld – für den Verzicht auf eine richtige politische Karriere, könnte man meinen. Liegt hier nicht bereits eine erste Form der Bestechung vor?
  • Ein EU-Parlamentarier bezieht im Monat ein Grundsalär von rund 10 000 Euro. Nach Steuern verbleiben etwa 7700 Euro
  • Steuerfrei kommt jeden Monat eine «allgemeine Kostenvergütung» von 5000 Euro hinzu
  • Für jeden Sitzungstag erhält er ausserdem 340 Euro. Pro Monat fallen im Schnitt 16 solche Tage an (Plenarsitzungen, Kommissionen, Fraktion). Je nach Terminkalender kann ein Abgeordneter zusätzlich rund 5000 Euro im Monat einstreichen
  • Ferner werden sämtliche Rechnungen beglichen, um zwischen Wohnort und Brüssel bzw. Strassburg hin- und herzupendeln (ganz gleich mit welchem Verkehrsmittel und wie oft im Monat). Ausserdem steht dem Politiker zu, jede Woche irgendwohin in der EU zu fliegen – auch diese Kosten werden vollständig erstattet (Business Class)
  • Und natürlich steht in Brüssel oder Strassburg jederzeit ein Dienstwagen samt Fahrer bereit. Telefonische Vorbestellung genügt
  • Last but not least darf ein Politiker eine «parlamentarische Assistenz» anstellen (oder auch zwei). Insgesamt stehen ihm dafür jeden Monat 28 000 Euro zur Verfügung

Kurz, je nach Wohnort, Sitzungstemperament oder Fernweh kann ein EU-Parlamentarier im Monat gut und gern 20 000 Euro verdienen – nach Steuern. Das ist jedoch lange nicht alles. Hier beginnt die zweite, wenn auch legale Korruption.
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Manche EU-Parlamentarier begnügen sich nämlich nicht mit ihrem Amt, sondern sie bekleiden noch etliche Nebenämter und übernehmen diverse Mandate für Dritte – als handelte es sich bei ihnen um unterbezahlte Milizparlamentarier. Transparency International, eine NGO, die sich weltweit gegen Korruption engagiert, widmet sich mit einer eigenen Abteilung auch dem Geschehen in der EU, dem manchmal korrupten Geschehen in der EU:
  • Dabei sind die Experten auch auf die Nebenverdienste der EU-Parlamentarier aufmerksam geworden
  • Diese sind ab und zu gigantisch, und oft stammen die Einnahmen von ausländischen Drittstaaten, um deren Ruf es etwa so gut bestellt ist wie im Fall von Katar

Die Rangliste der «Spitzenverdiener», die Transparency International im Jahr 2021 erstellt hat, führt ausgerechnet der ehemalige polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski an – ein durchaus heller Kopf (und Ehemann der amerikanischen Historikerin Anne Applebaum, einer brillanten Bestseller-Autorin).
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Radoslaw «Radek» Sikorski, einst polnischer Aussen- und Verteidungsminister, jetzt bestbezahlter Abgeordneter im Europäischen Parlament. 
Sikorskis «Nebenverdienste» beliefen sich 2021 auf:
  • 590 000 Euro. Ich betone: Nebenverdienst. Dazu kam das «reguläre Salär» von vielleicht 200 000 Euro.

Es folgen:
  • Sandro Gozi (F): 360 000
  • Asger Christensen (Dänemark): 240 000
  • Guy Verhofstadt (B): 157 000
  • Tomasz Frankowski (Polen): 132 000

Sikorski hat sich seinerzeit übrigens beschwert, als er fürs WEF nach Davos kam und nachher seine Telefonrechnung sah. Wegen der hohen Roaming-Gebühren der Schweiz war ein Betrag von rund 1000 Euro fällig. Umgehend machte er im EU-Parlament eine offizielle Anfrage, was die EU gegen die überrissenen Roaming-Gebühren der Schweiz zu unternehmen gedenke? Ich weiss nicht, ob der Vorstoss noch hängig ist. Mag sein, dass Erich Fromm ihn zum Nachdenken bringt. Fromm, der grosse deutsch-amerikanische Psychologe, schrieb zu diesem Thema: «Gier ist eine bodenlose Grube, die den Menschen in seinem endlosen Bemühen erschöpft, ein Bedürfnis zu befriedigen – ohne jemals Zufriedenheit zu erreichen.» Ich wünsche Ihnen einen glänzenden Tag Markus Somm

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