Somms Memo
Eine kleine Minderheit hat an den Zürcher Wahlen teilgenommen. Das zerstört die Demokratie.
Zürcher Löwe an einem Abstimmungssonntag.
Somms Memo gibt's auch als kostenlosen Newsletter. Täglich in Ihrer Mailbox.
Die Fakten: 320 000 Bürger haben in Zürich das neue Parlament bestellt, insgesamt hätten 930 000 das Recht dazu. Eine Minderheit entscheidet die Zukunft des Kantons.
Warum das wichtig ist: Vielleicht muss man die Stimmpflicht wieder einführen. Es ist gefährlich, wenn fast nur noch Akademiker bestimmen, was gilt.
Wenn in den kommenden vier Jahren der Zürcher Kantonsrat möglicherweise entscheidet, dass 120 Windräder gebaut werden sollen, die unsere Landschaft auf Dauer zerstören, dann liegt das an 12 277 Zürchern, die am vergangenen Sonntag die EVP gewählt haben:
- Die Evangelische Volkspartei EVP, eine Mini-Partei, gehört der sogenannten Klima-Allianz an, einem Bündnis von SP, Grünen, GLP und AL, die ihre (überwiegend linken) Vorstellungen einer neuen Klimapolitik durchsetzen möchten
- Im neuen Kantonsrat (180 Sitze) bringen sie es zwar bloss auf eine sehr knappe Mehrheit von einer Stimme (91 versus 89) – aber Mehrheit ist Mehrheit
- Die EVP erzielte mit einem Wähleranteil von 3,9 Prozent 7 Sitze. Da die EVP, eine links-zentristische Partei grüner Christen, eher in der Mitte liegt, dürfte sie einen überproportionalen Einfluss auf die künftige Klima– und Energiepolitik des Kantons erhalten. Ohne sie geht nichts mehr
Ist das noch demokratisch? 80 000 Wähler haben die SVP vorgezogen, 61 000 die SP, wer aber EVP wählte, hat eigentlich mehr zu sagen. 12 277 Zürcher beschliessen die künftige Gestaltung unserer Landschaft (sofern es keine Volksabstimmung gibt):
- nichts gegen Windkraftwerke an der Nordsee, wo der Wind kräftiger und öfter bläst als auf dem Uetliberg, aber
- das letzte Mal, als ich nachschaute, lag der Kanton Zürich noch nicht am Meer
Doch 12 277 sehen das anscheinend anders – oder tun so als ob. Sie entscheiden sich für die Fata Morgana.
Nun gehört das durchaus zur Demokratie, dass Minderheiten manchmal mehr Gewicht bekommen als ihnen streng rechnerisch zustünde, und oft hat das etwas Gutes, was aber zunehmend irritiert:
- Insgesamt kommen die Wählerinnen und Wähler des Kantons Zürich ihrer Bürgerpflicht kaum mehr nach
- Die Wahlbeteiligung nimmt seit Jahrzehnten ab, insbesondere bei kantonalen Wahlen: In den 1920er Jahren lag sie bei rund 80 Prozent, heute, wenn es gut kommt, haben bloss etwa 35 Prozent das Gefühl, sie müssten sich um die Politik kümmern
Das führt dazu, dass eine kleine Minderheit beschliesst, woran sich die grosse Mehrheit zu halten hat:
- rund 1,6 Millionen Einwohner zählt der Kanton Zürich mittlerweile
- 930 000 davon dürfen wählen und abstimmen, weil sie Schweizer und älter als 18 Jahre alt sind
- Aber nur 320 000 hielten das am vergangenen Sonntag für nötig
1,5 Millionen versus 320 000? Vor diesem Hintergrund wirken selbst SVP und SP wie Turnvereine mit überalterter Mitgliedschaft:
- Der eine bringt es noch auf zwei Klimmzüge, dann muss man eine Ambulanz vorbeischicken (SVP)
- Die andere stellt sich auf den Kopf – und weiss nicht mehr, wie sie danach wieder auf die Füsse kommt (SP)
Kurz, SVP und SP sind in der Bevölkerung genauso schwach abgestützt. Die beiden «grössten» Parteien des Kantons vertreten zusammen bloss 140 000 Menschen.
Wo ist das Problem?
1. weist die tiefe Wahlbeteiligung auf Desinteresse hin. Das untergräbt die Legitimität jedes demokratischen Entscheides. Das ist gefährlich. Wenn so viele Bürger sich um die Demokratie foutieren, dann kommt irgendeinmal der Zeitpunkt, wo sich eine hoch motivierte Elite sagt: Warum überhaupt noch das Volk fragen? Es scheint ja so zufrieden
2. zeigt sich immer deutlicher, dass es eine Frage der Ausbildung ist, ob man an Wahlen teilnimmt – oder nicht. Akademiker (im weitesten Sinne: Universitätsabschluss, Fachhochschulen) tun es gewissenhafter als Leute mit einer Berufsbildung. Insgeheim verwandelt sich unsere direkte Demokratie damit in eine faktische Oligarchie der Hochqualifizierten – schleichend, aber scheinbar unaufhaltsam
Was sich im Übrigen an der Stimmbeteiligung in ausgewählten Gebieten erkennen lässt. Hier die positiven Spitzenwerte (Kantonsratswahlen 2023, Kanton Zürich):
- Stadt Zürich, Kreis 6: 47 Prozent
- Stadt Zürich, Kreis 7/8: 46,5 Prozent
Und die negativen:
- Weiach: 19, 8 Prozent
- Opfikon: 20, 3 Prozent
- Oberglatt: 21 Prozent
- Schlieren: 21, 3 Prozent
Damit Nicht-Zürcher die Misere ermessen können, eine Leseanleitung: Im Kreis 7 lässt sich wohl die höchste Akademikerdichte im Land feststellen, in Opfikon und Schlieren leben dagegen Lageristen, Lastwagenfahrer und Coiffeusen.
Selbstverständlich hilft diese Entwicklung der Linken mehr als der Rechten – zumal sich SP und die Grünen zusehends in akademische Clubs verwandelt haben, die sich um ihren Nachwuchs kaum Sorgen machen müssen.
- Wer an der Universität, ja selbst an der ETH abschliesst, wird als Sozialdemokrat oder grüner Aktivist diplomiert
- Wer eine Matura besteht, hat gelernt, dass in zwei Jahren infolge der Klimakrise die Welt untergeht
Mit anderen Worten, die linken Parteien ziehen überdurchschnittlich viele Hochqualifizierte an – und da diese wiederum eher an die Urne gehen (und in den Städten wohnen), gewinnen sie auch einen überdurchschnittlichen Einfluss auf das politische Geschehen.
Das ist nicht ihre Schuld. Und trotzdem tut es dem Land nicht gut.
Wenn sich die Demokratie als überlegen erwiesen hat, dann auch deshalb, weil die Magie der hohen Zahl von Teilnehmern immer bessere Ergebnisse erbrachte als jene Systeme, wo nur kleine Eliten das Sagen hatten.
- Wir brauchen alle – Dumme, Gescheite, Reiche und Arme, Frauen und Männer, Spinner und Langweiler, Genies und Mittelmass – damit die Demokratie die beste Staatsform der Welt bleibt
- Diversity gilt auch hier. Auf Weiach kommt es genauso an wie den Kreis 7.
Bis 1984 galt im Kanton Zürich die Stimmpflicht – wobei sie längst nicht mehr konsequent durchgesetzt worden war. Wer nicht stimmte, zahlte einen Franken Busse – wenn überhaupt. Jedenfalls dürfte diese Höhe der Busse niemanden davon abgeschreckt haben, am Sonntag auszuschlafen – statt an die Urne zu gehen.
Vielleicht ist es Zeit, die Stimmpflicht wieder einzuführen. Als Strafe empfehle ich: Ein Windrad, das man im eigenen Garten montieren muss.
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag
Markus Somm