Was die Schweiz von Israel lernen kann
Ein Land voller Start-ups
Volksfest am Strand von Tel Aviv am diesjährigen Unabhängigkeitstag, 75 Jahre nach der Staatsgründung. (Bild: Keystone)
In Israel gibt es rund 100 sogenannte «Unicorns» (dt. Einhörner). Das sind Start-up-Firmen, die den Wert von einer Milliarde Dollar erreicht haben. «Unicorns» erreichen dies in der Regel durch ihre bahnbrechenden Geschäftsmodelle, innovativen Produkte oder Dienstleistungen und ihr schnelles Wachstumspotenzial. Meist sind es technologieorientierte Unternehmen, insbesondere in Bereichen wie Software, E-Commerce, Fintech, Biotech und künstliche Intelligenz.
USA an der Spitze
Weltweit gab es 2022 rund 1150 solche Unternehmen. Ihre Verteilung ist ziemlich ungleich: Die meisten Länder haben noch nie etwas von so erfolgreichen Start-ups gehört. In siebenundvierzig Ländern steht mindestens ein «Unicorn». An der Spitze stehen jedoch die USA und China mit 612 und 174 Unternehmen. Nach Israel folgt Indien mit 65 solcher erfolgreicher Firmen.
In der Schweiz wurden in den letzten zehn Jahren 27 solche «Einhörner» gegründet, die Hälfte davon im Gesundheitssektor. In Europa führen Grossbritannien, Deutschland und Frankreich mit 43, 29 und 24 Einhörnern die Statistik an. Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zur Bevölkerung, steht die Schweiz gut da. Doch ein Land sticht besonders heraus: Israel. Was macht dieses exakt vor 75 Jahren gegründete Land so erfolgreich?
Die Antwort findet sich in einem Buch von Dan Senor und Saul Singer. «Start-up Nation: The Story of Israel’s Economic Miracle» (Twelve, 2009). Es untersucht die Faktoren, die zu Israels bemerkenswertem Erfolg als Zentrum für Innovation und Unternehmertum beigetragen haben.
Kultur und Religion sind entscheidend
Da wäre die kulturelle und historische Dimension. Israels Geschichte, Religion und Kultur haben einen einzigartigen Unternehmergeist hervorgebracht – und dafür gesorgt, dass dieser «Spirit» in der Gesellschaft weit verbreitet ist. Innovation, Risikobereitschaft und Anpassungsfähigkeit sowie die kollektive Erinnerung an Widrigkeiten und Überlebenskampf der jüdischen und israelischen Geschichte bilden das Fundament für diese kulturellen Vorteile. Hinzu kommt die israelische Mentalität, Risiken und Misserfolge als Teil des unternehmerischen Weges anzunehmen. Wie stark die jüngsten Spannungen in der Gesellschaft diesen kulturellen und patriotischen Konsens infrage stellen, ist offen.
Senor und Singer unterstreichen aber auch die positive Rolle der Zuwanderung: Die israelische Bevölkerung setzt sich aus Einwanderern mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, die ein breites Spektrum an Fähigkeiten, Erfahrungen und Netzwerken mitbringen. Dieser Zustrom von Talenten hat wesentlich zu Israels unternehmerischem Ökosystem beigetragen und Kreativität, Vielfalt und eine dynamische Start-up-Kultur gefördert.
Staatliche Förderung
Der Erfolg der israelischen Start-ups ist jedoch nicht bloss auf Privatinitiative gewachsen. Der Staat hat eine entscheidende Rolle bei der Förderung des Start-up-Ökosystems gespielt. Der Staat hat Risikokapitalinvestitionen gefördert, Finanzmittel für Forschung und Entwicklung bereitgestellt und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Industrie und dem Militär unterstützt. Und dann hat Israel jede international akzeptierte Möglichkeit ausgenutzt, damit Unternehmen ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei den Steuern abziehen können.
Hinzu kommt: Die andauernde Bedrohung durch die muslimischen Nachbarn zwingt insbesondere das israelische Militär zu einer Innovationskultur, zu raschen Entscheiden und zur Anwendung neuer Technologien in der Praxis. Der obligatorische Militärdienst vermittelt den Israelis wertvolle Fähigkeiten und Netzwerke, die oft in den privaten Sektor übertragen werden und unternehmerische Vorhaben vorantreiben.
Weltoffenheit
Das alles würde wohl wenig nützen, wenn Israel nicht über ein starkes Bildungssystem mit Universitäten und Forschungseinrichtungen von Weltklasse verfügen würde. Das Buch unterstreicht zudem Israels globale Ausrichtung und seine Fähigkeit, mit internationalen Partnern zusammenzuarbeiten. Israelische Start-ups nutzen globale Netzwerke und Risikokapital, um ihre Unternehmen zu vergrössern und ihre Reichweite zu erhöhen. Das Land ist global orientiert, nicht nur auf einen Kontinent, und schon gar nicht auf eine Schnittmenge davon, zum Beispiel die Europäische Union.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Schweiz ziehen? Die Schweiz hat ein zumindest auf Hochschulstufe gutes Bildungswesen. Eine staatliche Förderung von Start-ups gibt es ebenfalls. Doch die Bundesagentur Innosuisse ist viel kleiner und weniger erfolgreich als jene in Israel. Direkte Investitionen des Staates in Risikokapital gibt es nicht. Bei der Abzugsfähigkeit von Forschung und Entwicklung hinkt die Schweiz nicht nur Israel, sondern den meisten anderen Ländern hinterher, wie ein internationaler Vergleich der Tax Foundation kürzlich ergab (Link).
Die Schweiz ist historisch ein offenes Land für Zuwanderer, die hier etwas leisten wollen. Seit den sechziger Jahren bekundet die Schweiz allerdings Mühe, die Zuwanderung zu steuern. Das System der Kontingente funktionierte zwar gut, brachte aber eine grosse Bürokratie mit sich. Mit der Personenfreizügigkeit ist die Schweiz für Zuzüger aus der EU und der EFTA vollkommen offen, Qualifikationen spielen keine Rolle. Der Zuzug von Talenten aus Drittstaaten ist hingegen eng begrenzt. Ein Start-up-Ökosystem braucht jedoch die besten Leute aus der ganzen Welt. Die Zuwanderung in den Niedriglohnsektor ist nicht entscheidend.
Bleiben als Unterschied zwischen Israel und der Schweiz die Bedeutung des Militärs und das kulturelle und religiöse Fundament der Gesellschaft. Auch wenn ein direkter Vergleich mit dem jüdischen Staat nicht ganz fair ist: Beides ist in den letzten dreissig Jahren in der Schweiz erodiert.
Und die Schweiz?
Bei der Bildung können wir mit Israel mithalten. Einen unternehmerischen Geist gibt es ebenfalls (noch). Freiheitliche Rahmenbedingungen sind gegeben, wenn auch in Gefahr. Der Zugang zu internationalen Netzwerken und Risikokapital ist hierzulande ebenfalls gut.
Will die Schweiz Israel nacheifern, braucht es ein kulturelles und religiöses Fundament für die Gesellschaft, mehr Militärdienst, eine gesteuerte, für die weltweit Besten offene Zuwanderung, mehr und bessere staatliche Unterstützung und vor allem viel mehr Steuerabzüge für Unternehmen, die hier investieren. So werden weitere «Unicorns» bei uns entstehen.