Somms Memo

Ein bürgerliches Abstimmungswochenende. Ist das die Zeitenwende?

image 13. März 2023 um 11:02
Esther Friedli, Siegerin des ersten Wahlganges in St. Gallen. Möglicherweise wird sie am 30. April zur Ständerätin gewählt.
Esther Friedli, Siegerin des ersten Wahlganges in St. Gallen. Möglicherweise wird sie am 30. April zur Ständerätin gewählt.
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Die Fakten: SVP-Erfolg in St. Gallen, neue Umfahrungen in Bern, keine höheren Steuern für Reiche in Genf: Ein durch und durch bürgerliches Abstimmungswochenende. Warum das wichtig ist: Wird das Land also doch konservativer? Angesichts der schweren Zeiten war schon lange damit zu rechnen. Die Zeitenwende macht sich bemerkbar. Esther Friedli, SVP-Nationalrätin aus dem Kanton St. Gallen, redet zwar wie eine Politikerin, wenn sie gewinnt, aber sicher nicht wie eine St. Gallerin:
  • In nur leicht ostschweizerisch kontaminiertem Berner Dialekt sagt sie so interessante Dinge wie: «Wahlkampf ist ja Kampf. Man muss die Wählerinnen und Wähler überzeugen»
  • «Abgerechnet wird am 30. April» – womit sie auf den zweiten Wahlgang anspricht, der dann stattfindet

Zwar ist sie noch nicht als Ständerätin gewählt, doch ein Triumph ist es allemal. Den ersten Wahlgang hat Friedli mit Abstand für sich entschieden, wenn sie auch unter dem absoluten Mehr geblieben ist. Sie hat mehr als doppelt so viele Stimmen erhalten wie die zweitplatzierte Kandidatin der FDP, Susanne Vincenz-Stauffacher, und noch viel mehr als die linken Kandidaten Barbara Gysi (SP) und Franziska Ryser (Grüne) – vor allem ist sie weit über den Wähleranteil der SVP gekommen:
  • in den letzten Nationalratswahlen (2019) hat die Partei 31,3 Prozent der St. Galler für sich gewonnen
  • in den Kantonsratswahlen (2020) kam sie auf 26,9 Prozent,
  • Friedli brachte es jetzt auf 44 Prozent
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Das ist sensationell. Damit steht die gebürtige Bernerin möglicherweise vor einem historischen Erfolg ihrer Partei im Kanton St. Gallen. Die SVP, die es vor den 1990er Jahren in diesem Kanton noch gar nicht gegeben hat, ist zwar seit langem die stärkste und auffälligste Partei, doch in den Ständerat hat sie es bisher nie geschafft – zumal sich alle übrigen Parteien in solchen Majorzwahlen immer gegen sie verbündeten, als kennten sie keinen Unterschied mehr zwischen bürgerlich und links. Das letzte Mal scheiterte die SVP mit Toni Brunner, dem Superstar. Er ist der Lebenspartner von Friedli. Aus welchen Gründen auch immer haben die zwei nie geheiratet – obwohl sie seit Jahrzehnten zusammen sind. Friedli war 20 – und noch in der CVP, Brunner 23, und damals, soviel ich weiss, jüngster Nationalrat aller Zeiten, als sie sich näherkamen. So gesehen entbehrt es nicht der familiären Ironie, dass nun ausgerechnet Friedli das fertig bringen könnte, was Brunner nie vergönnt war. Dafür trägt sie zu einem wesentlichen Teil die Verantwortung selbst:
  • Die Frau ist gut, die Frau ist sehr gut
  • Sie hat sich innert kürzester Zeit einen glänzenden Namen gemacht in Bern. Selbst Gegner attestieren ihr: Kompetenz, Dossiersicherheit und einen angenehmen Umgang, eine «Nette» von der SVP, die ihre Partei inhaltlich trotzdem nicht verrät, im Gegenteil

Kurz, eine Art St. Galler Albert Rösti – was vielleicht symptomatisch ist für den Zustand dieser Partei. The Bernese Empire Strikes Back: Die Berner Nettigkeitspolitik hat Zukunft, während der Zürcher Brutalokurs der Vergangenheit anzugehören scheint. Man hat es satt in Bern, sich beleidigen zu lassen, man hat es satt in St. Gallen, ständig eines Besseren belehrt zu werden – selbst wenn das Brunner so charmant zu tun verstand. Oder anders ausgedrückt: Es gibt eine Zeit für den Kampf, wo Gift und Galle angemessen sind, wenn es darum geht, aufzusteigen, – und es gibt eine Zeit, da man von der stärksten Partei des Landes erwarten darf, dass sie Verantwortung übernimmt. Die eigenen Anhänger – und die Gegner möchten Resultate sehen. Sie wollen recht bekommen – nicht bloss recht haben. Wenn die SVP feststellt, dass solche vermeintlich «netten» Politiker wie Rösti oder Friedli beim Wähler besser ankommen, dann sollte sie die Konsequenzen ziehen – was ihren Stil betrifft, und die Kandidaten, die sie fördert. Was bringt es der Partei, als Opposition auf dem Misthaufen der Geschichte zu verfaulen? Das mag langweilig wirken, manchmal auch kompromisslerisch, halb-korrekt statt ganz-verbissen: Am Ende zählen die Resultate. Das ist das eine, was das Phänomen Friedli ausmacht. Das andere mag auf eine konservative Zeitenwende hindeuten. Auf die wir ja schon lange warten – angesichts der eher holprigen Zeitumstände, was die Menschen gemeinhin konservativer macht.
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Auch in anderen Kantonen bewegten sich die Bürgerinnen und Bürger gestern nach rechts: 1. Im Kanton Bern stimmte das Volk für zwei kostspielige, und ökologisch sicher diskutable Umfahrungen – die eine neue Strasse soll Aarwangen entlasten, die andere die Region Burgdorf. Wenn das eine Zeitenwende ist, wie Regierungsrat Christoph Neuhaus (SVP) am Sonntag frohlockte, dann auch deshalb, weil die Linke so pechschwarz verlor: Zusammen mit ein paar deroutierten Bauern hatte sie vor einer Art Berner Apokalypse gewarnt: Das Klima kippt, wenn der Kanton baut, die Landschaft wird ruiniert, wenn der Kanton baut, die Demokratie ist bedroht, wenn die Linke nicht recht bekommt. Es gilt: Je überzogener die Kampagne im Vorfeld, desto tiefer der Sturz in den Abgrund danach.
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2. Im sonst fast geschlossen linken Kanton Genf lehnten die Stimmbürger eine Initiative ab, deren Titel schon so links klang, dass man sich ins Jahr 1917 zurückversetzt fühlte, kurz vor Lenins Machtübernahme in Petrograd: «Gegen den Virus der Ungleichheit – Widerstand leisten! Steuerprivilegien für Grossaktionäre abschaffen», hiess diese Initiative. Wäre sie durchgekommen, hätten Aktionäre, die mehr als 10 Prozent eines Unternehmens besitzen, ihre Dividenden zu 100 Prozent versteuern müssen – sie wären also mit anderen Worten enteignet worden. Fast 60 Prozent der (sonst so linken) Genfer verwarfen diese Idee aus dem Archiv für Marxismus-Leninismus. Dass die gleichen Genfer eine weitere radikale Initiative ablehnten, die jede Plakatwerbung im öffentlichen Raum untersagen wollte, kann als zweites Zeichen der Zeitenwende gelesen werden – selbst wenn hier das Ergebnis knapp ausfiel
Wenn die Bürgerlichen in den kommenden Monaten nicht alles falsch machen – wozu sie durchaus imstande sind, wie die Erfahrung lehrt – dann sollten sie mit einer gewissen Zuversicht den Nationalratswahlen entgegenblicken können. Rechts ist hip. Utopien werden neuerdings entsorgt. Das ist die Lehre, die man aus dem 12. März ziehen sollte. Die Zeit spricht für mehr rechten Realismus und weniger linke Fata Morgana. Oder wie es der deutsche Dramatiker Friedrich Hebbel ausgedrückt hat: «Der Utopist sieht das Paradies, der Realist das Paradies plus Schlange.» Ich wünsche Ihnen einen gelungenen Wochenbeginn Markus Somm

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