Printausgabe
Ein bisschen mehr Exzess, bitte!
Jürg Kühni
Die Schweiz startete 2023 mit einem erneuerten Bundesrat. Aber das wesentlichste Merkmal fehlt mir persönlich immer noch: weniger Angepasstheit, dafür mehr Exzess.
Vermutlich ist meine Vorliebe für exzessives Verhalten in früher Vergangenheit angelegt. In meiner Jugend, lange, bevor man nackte Haut auf jedem Smartphone zu sehen bekam, gab es – auf VHS! – einen Meilenstein des Erwachsenenfilms namens «Exzesse in der Schönheitsfarm».
Rein darstellerisch war das nicht die Krone der Schöpfung, aber die Leute in dem Streifen waren sehr nackt. Seither suche ich diese Form des Exzesses im realen Leben, aber ich werde nicht fündig. Vor allem nicht bei unserem Bundesrat. Meine Güte, sind die alle brav! Meilenweit von jedem Exzess entfernt!
Enttäuschte Hoffnung
Ja, Guy Parmelin mag Weisswein. Schon rein berufshalber. Aber hat ihn jemals jemand stockbesoffen durch die Wandelhalle wanken sehen? In diesem Mann lag bei seiner Wahl meine Hoffnung, und er enttäuscht sie immer wieder grenzenlos. Er wirkt schon fast dauernüchtern. Verzeihung, aber: Wenn ein Waadtländer Weinbauer nicht mal einen Schuss permanenter Trunkenheit und ein charmantes Lallen bei Pressekonferenzen in die Landesregierung bringt, wer denn dann bitte?
Den Rest der Bundesratstruppe habe ich schon längst aufgegeben. Ignazio Cassis ist Arzt, was will ich von dem erwarten? Patienten hat der Berufspolitiker seit Ewigkeiten nicht mehr behandelt, also kann er nicht mal abends glücklich machende Medikamente nach Hause schmuggeln.
Albert Rösti hatte angesichts der Unzahl seiner Mandate niemals Zeit, sich die Kante zu geben und sich daran zu gewöhnen. Viola Amherd hat vermutlich 24 Stunden am Tag die Anzahl Promille, die man im Wallis eben hat, um die Berge auszublenden, die sie umgeben – aber die sieht man diesen Leuten ja nicht an, das ist ihr Dauerzustand. Exzessiv würde ich das nicht nennen.
Grösste Sünde
Und bitte sprechen Sie mich gar nicht erst auf Karin Keller-Sutter an. Ich verfolge ihren politischen Weg seit vielen Jahren, und ich frage mich, wie sich Mutter Teresa und der Dalai Lama neben diesem Ausbund an Korrektheit fühlen. Die grösste «Sünde» dieser Bundesrätin sind die geschenkten Kleider des St. Galler Luxuslabels «Akris», aber daneben ist sie die pure Reinheit.
Wie kann man seit mehreren Jahrzehnten in der Öffentlichkeit stehen und nie entgleisen? Vermutlich führt die Frau sogar eine Excel-Tabelle, die Aufschluss gibt über den Termin für den nächsten Beischlaf mit ihrem Gatten. Niemand, wirklich niemand, hat sie jemals mit einem Glas Wein an einem öffentlichen Anlass gesehen. Mir macht das Angst. Gebt der Frau Alkohol!
Berset als Hoffnungsträger
Das letzte bisschen Hoffnung schöpfe ich aus unserem Bundespräsidenten Alain Berset. Der scheint mir näher am gesunden Exzess als seine Kollegen. Er lässt sich beispielsweise mit einer Staatslimousine in den Schwarzwald chauffieren für leibliche Genüsse (und ich spreche nicht von einer Mahlzeit), er torpediert mal schnell bei einem Privatflug die Lufthoheit eines Nachbarstaats, er lässt seine Mätresse verhaften, weil sie gerne aus dem Nähkästchen plaudern würde – das beeindruckt mich! Aber auch ihm fehlt das entscheidende Merkmal: Er schweigt seine Exzesse tot, statt sich mit ihnen zu brüsten. Meine Losung heisst: Trink und sprich darüber!
Jedes Jahr wird ein offizielles Bundesratsfoto publiziert. Stets sitzen oder stehen die Regierungsmitglieder nebeneinander, und zwar alkoholfrei, drogenfrei und mit klarem Blick. Mich als sehr durchschnittlichen Bürger würde es viel mehr beeindrucken, wenn die wackeren Sieben mal an der Sitter in Appenzell stehen und gemeinschaftlich in den Fluss reihern würden, weil sie zuvor gerade im Pub von Appenzell ein paar Alpenbitter zu viel hatten. Das wäre aus dem Leben gegriffen und näher am Stammtisch. Aber solange der Bundesrat nicht von Leuten wie mir gewählt wird, ändert sich wohl gar nichts.