Somms Memo

Die Schweiz stimmt Netto-Null zu. Führt das zur Renaissance der Atomkraft?

image 19. Juni 2023 um 10:00
Jubel bei den Befürwortern des Klimaschutzgesetzes, 18. Juni 2023. (Bild: Keystone)
Jubel bei den Befürwortern des Klimaschutzgesetzes, 18. Juni 2023. (Bild: Keystone)
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Die Fakten: Mit fast 60 Prozent hat das Volk das Klimaschutzgesetz angenommen. Für die Schweiz gilt jetzt Netto-Null im Jahr 2050. Warum das wichtig ist: Ist es ein Sieg oder ein Triumph – und wenn, für wen? Weder noch. Es ist ein Pyrrhussieg. Wenn wir die gestrige Abstimmung über den Klimaschutz in einen biblischen Kontext stellen möchten:
  • Dann haben wir mit Begeisterung den zehn Geboten zugestimmt
  • Während wir deren Umsetzung offengelassen haben

Netto-Null haben wir beschlossen, Netto-Null soll es sein, aber ob wir dann dieses Ziel je verwirklichen, ist Gegenstand einer durchaus auch parareligiösen Debatte.
  • Reicht es, wenn ich häufiger Velo fahre und dabei ganz fest an Netto-Null denke?
  • Oder braucht es doch etwas härtere Massnahmen: Verbote, höhere Steuern und die Heilige Inquisition unter Führung von Balthasar Glättli?

Zwei Feststellungen:
  1. Das Ergebnis ist ein Triumph für die Befürworter – zumal sie nach nur zwei Jahren, nachdem das CO2-Gesetz gescheitert war, jetzt von neuem einen klimapolitischen Durchbruch erzielt haben
  2. Und trotzdem ist es auch ein Erfolg der Gegner, insbesondere für die SVP, der es gelang, weit über ihre Basis hinaus zu mobilisieren: 40,9 Prozent für eine Partei mit 26 Prozent Wähleranteil ist kein Unglück. Vor allen Dingen, wenn wir die Volkspartei mit der SP vergleichen, die gestern mit ihrem Nein zur OECD-Mindeststeuer bloss auf 21,5 Prozent gekommen ist (Wähleranteil SP: 17 Prozent)

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Doch das sind Kleinigkeiten, mehr kommt es auf den grösseren Zusammenhang an, und hier kann man sich fragen, ob es einen Grund gibt, warum die Sieger gestern so merkwürdig zerquetscht wirkten, so erleichtert, und doch nicht begeistert:
  • Als würden sie spüren, dass sie eigentlich zu wenig erreicht hatten
  • Sie haben sehr viel politisches Kapital eingesetzt – ohne eine sichere Rendite

Zwar stehen die zehn Gebote nun im Gesetz, aber es fehlt Moses, der sie auch durchsetzt. Angesichts der Tatsache, dass selbst Moses’ Leistungsbilanz in dieser Hinsicht durchzogen ist, wenn wir sie über die Jahrtausende betrachten, dann ahnen die Sieger wohl, was ihnen bevorsteht.
War die Vorlage nicht ein No-Brainer? Wäre sie gescheitert, dann hätte selbst ich den Stimmbürger nicht mehr verstanden:
  • Die Vorlage schreibt Klimaziele ins Gesetz, die erst in 27 Jahren anstehen, also am St. Nimmerleins-Tag im Jahr des Sankt Florian – ohne auch nur eine einzige Massnahme vorzusehen, die den Stimmbürger unnötig inkommodiert hätte
  • Stattdessen erhält der Stimmbürger Geld, das laut Angaben der Behörden nichts kostet, wenn er sich eine neue, schöne Wärmepumpe kauft

Wer, bei Verstand, würde da Nein sagen? Dass dies dennoch 41 Prozent taten, lässt erahnen, dass die Vorlage es sehr viel schwerer gehabt hätte, wenn dem Stimmbürger nur eine einzige lästige Vorschrift, ein einziges Windrädchen am falschen Ort oder ein höheres Steuerlein allein zugemutet worden wäre. Mit anderen Worten, Netto-Null ist etwa so populär wie die zehn Gebote, bevor sich der eine Ehemann in die Ehefrau des anderen verliebt.

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Ein Zweites kommt hinzu.
  • Der Vorwurf der Gegner, die Vorlage spreche nur von Zielen, aber nicht vom Weg, um je dorthin zu gelangen, hat die Befürworter offenbar ins Grübeln gebracht – weil er stimmt
  • So dass der Druck, nun auch die erforderlichen Massnahmen zu beschliessen, ins Unermessliche gestiegen ist, vor allen Dingen, was die Stromproduktion betrifft

Denn Tatsache ist: Wenn wir so viele Wärmepumpen einbauen lassen und unsere Politiker die Bürger dazu ermuntern, aufs E-Auto umzusteigen, dann brauchen wir mehr Strom, viel mehr Strom, extrem viel mehr Strom.

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Im Bestreben, das Klimaschutzgesetz ja nicht zu gefährden, haben die Befürworter das selber immer und immer wieder eingeräumt. Nun ist Zahltag. Wem es mit der Klimapolitik je ernst war, der muss jetzt die Stromproduktion ausbauen – ansonsten wir Netto-Null nicht einmal im Jahr 2150 erreichen dürften. Dass dies den Befürwortern bewusst ist, zeigt sich insbesondere bei den Vertretern in der bürgerlichen Mitte und bei der Wirtschaft – die einer Vorlage zugestimmt haben, obwohl sie, wenn man mit ihnen im vertrauten Kreis zusammensass, mehr über deren Nachteile als deren Vorzüge zu sagen wussten.
  • Schon am Sonntag verlangte Economiesuisse, der Spitzenverband der Wirtschaft, faktisch und konsequenterweise neue Atomkraftwerke: «Wir müssen bis 2050 unsere Stromproduktion verdoppeln. (…) Das heisst: Verfahren beschleunigen, technologieneutrale und auf die Winterproduktion ausgerichtete Vergabe von Fördermitteln sowie die Aufhebung des Kernkraftverbots.
  • Und selbst der freisinnige Ständerat Ruedi Noser (ZH), der einst die unsinnige Gletscher-Initiative satisfaktionsfähig gemacht hatte, fordert nun laut NZZ längere Laufzeiten für die bestehenden sowie neue Atomkraftwerke. FDP-Präsident Thierry Burkart hatte sich schon vor der Abstimmung für Atomkraft stark gemacht

Mit anderen Worten, ausgerechnet das Klimaschutzgesetz könnte die Renaissance der Atomkraft in der Schweiz einleiten. Noch freut sich die Linke über ein gutes Abstimmungsergebnis.

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Pyrrhos, König von Epirus, Abstimmungssieger.

Tatsächlich ist es ein Pyrrhussieg. «Noch einen solchen Sieg über die Römer», sagte Pyrrhos I., König von Epirus, «dann sind wir vollständig verloren!» Zwar hatte er die Schlacht von Asculum (279 v. Chr.) gewonnen, doch mit so vielen Verlusten, dass er am Ende unterging. Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Wochenbeginn Markus Somm

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