Somms Memo

Die Schweiz kennt nur tiefe Schulden. Das verdanken wir einer genialen Erfindung.

image 21. August 2023 um 10:00
Kaspar Villiger (FDP), Bundesrat und Finanzminister (1989–2003), auf dem Weg an eine Sitzung. (Bild: Keystone)
Kaspar Villiger (FDP), Bundesrat und Finanzminister (1989–2003), auf dem Weg an eine Sitzung. (Bild: Keystone)
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Die Fakten: Die Staatsschulden der Schweiz betrugen 2022 rund 28 Prozent im Verhältnis zum BIP. Das ist tiefer als fast überall in der OECD. Warum das wichtig ist: Dieser Erfolg der Schweiz ist ein Erfolg ihrer Schuldenbremse. 2003 eingeführt, stellt sie die beste Reform der jüngeren Vergangenheit dar. Es gibt wohl nur ein einziges Land auf dieser Erde, wo Politiker und Finanzbeamten zu einem Fest einladen, um zu feiern:
  • dass ihnen der Bürger per Verfassung verboten hat, zu viel Geld auszugeben
  • Und dieses Land heisst Schweiz

85 Prozent der Schweizer und alle Kantone haben 2001 in einer Volksabstimmung eine Verfassungsänderung angenommen, die Bundesrat und Parlament auf Dauer erschweren sollte, Schulden anzuhäufen, die nie mehr abgetragen werden. Selten lag die Zustimmung zu einer Reform höher. 2003 trat diese sogenannte «Schuldenbremse» in Kraft. Und weil das genau 20 Jahre her ist, lädt die Eidgenössische Finanzverwaltung am 5. September zu einem Anlass ein – unter Mitwirkung von:
  • Kaspar Villiger (FDP), alt Bundesrat, dem Vater der Schuldenbremse
  • Karin Keller-Sutter (FDP), seiner indirekten Nachfolgerin als Finanzministerin,
  • sowie berühmten Professoren und Chefbeamten

Sie alle werden vermutlich erzählen, wie froh sie sind, dass das Volk ihnen auf die Finger geklopft hat. Dann gibt es einen Apéro. Ist es nicht etwas pervers? Alle wissen, dass Staaten seit ihrem ersten Aufkommen in Mesopotamien vor gut 5000 Jahren immer dazu neigen sich zu verschulden, als müsste das niemand je bezahlen. Und alle Politiker wissen, zumal in Demokratien, dass sie beim Wähler gut ankommen, wenn sie über die Schuldenwirtschaft schimpfen – jedenfalls vor den Wahlen, nachher werden sie kleinlauter, was sie sich umso mehr erlauben, weil auch das Gedächtnis der Wähler selten jenem des Elefanten gleicht, sondern eher jenem einer Maus. Pervers, weil niemand will, was dann doch geschieht: Die Staaten versinken im Sumpf der Schulden, und oft gibt es kein Halten mehr:
  • in Japan liegen die Staatsschulden bei 261 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (2022), d.h., alle Japaner müssten zweieinhalb Jahre gratis arbeiten und produzieren, um all die Schulden abzuzahlen, die ihr Staat gemacht hat
  • Griechenland kommt auf 177 Prozent, Venezuela auf 158, Italien auf 145 (2022)
Kurz, die Politiker sagen zwar gerne, was die Bürger hören wollen, doch vergessen sie das ebenso gerne, sobald sie im Amt sitzen – um hinterher sogar zu behaupten, der Wähler sei schuld, wenn es immer höhere Schulden gebe.
  • «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?», sagte der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer. Unter einem Mangel an Ehrlichkeit litt er nie. Ein Ausnahmepolitiker.

Selbst in der direktdemokratischen Schweiz, wo der Bürger im Vergleich zu allen anderen Ländern eine persönliche Atombombe in den Händen hält, falls er seine Politiker disziplinieren will, – selbst hier stiegen die Schulden Schritt für Schritt:

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Gewiss, da lagen ein paar Weltkriege und Krisen dazwischen, und doch nahmen die Schulden – perverserweise zum Dritten – am meisten zu, als es uns schon sehr gut ging: ab 1975 gab es auch in der Schweiz kein Halten mehr.
  • Besonders die 1990er Jahren waren schlimm, als die Nationalbank mit einer falschen Geldpolitik für eine hartnäckige Wirtschaftskrise gesorgt hatte
  • Um die Folgen aufzufangen, stürzte sich der Bund fast besinnungslos in die Verschuldung

Wenn es jemanden gab, der diese fiskalische Verwahrlosung geradezu persönlich nahm, dann Kaspar Villiger, der damalige Finanzminister: An runden Tischen, die bis in die Morgenstunden dauerten, setzte er Sparprogramme durch. Er bettelte und erpresste, er überzeugte und überredete. Am Ende gelang ihm die Sanierung der Bundesfinanzen. Im Wissen, dass nach ihm wieder viele normale Politiker kommen, die etwas weniger pingelig sind, wenn es um das Geld der Steuerzahler geht, konzipierte Villiger mit seinen Leuten im Finanzdepartement die Schuldenbremse.
  • Dass 85 Prozent des Volkes sie annahmen, sprach für Villiger. Es war ein Triumph der Gewissenhaftigkeit für einen gewissenhaften Politiker
  • Sparen war populär, er war populär: Vielleicht auch, weil da einer ständig vom Gürtel-enger-Schnallen sprach – und dabei selbst abzunehmen schien

No Bullshit. Dafür stand Villiger, der meistens wenig elegante Mephisto-Schuhe trug. Die mit den Gummisohlen.  Villiger kam nicht von der Bahnhofstrasse, sondern aus dem Stumpenland. The Big Picture: Im Rückblick betrachtet erwies sich die Schuldenbremse als eine grandiose Errungenschaft. Seither nahmen die Schulden der Schweiz fast unablässig ab, selbst der 30-Milliarden-Irrsinn, den unsere Politiker ausgaben, um Corona zu überstehen, haben den Bundeshaushalt nicht in den Ruin gestürzt.

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Wie wirksam die Schuldenbremse die Politiker von der Verschwendung abhält, zeigt ein Vergleich der Schweiz mit den USA, den Schwesterrepubliken, die beide einer gewissen Staatsskepsis entsprungen sind: Steuerwiderstand als Teil der DNA.
  • Während die Schweiz praktisch genau ab 2003 ihre Schuldenwirtschaft aufgegeben hat,
  • scheinen die USA in den gleichen Jahren alle Hemmungen verloren zu haben. Jahr für Jahr wuchs der Schuldenberg, als ginge es darum, die Italiener in Verlegenheit zu bringen

Wenn es allerdings einen tieferen Grund gibt, warum die Schuldenbremse allein in der Schweiz ihre erstaunliche Wirkung entfaltete, dann liegt es an der direkten Demokratie: 85 Prozent!  Das treibt dem unverschämtesten Politiker die Schamröte ins Gesicht, sollte es ihm einfallen, zu viele Schulden zu machen. OK, nicht allen. Um noch einmal Adenauer zu zitieren, den wohl grössten Politiker, den die Deutschen je hervorgebracht haben: «Natürlich achte ich das Recht. Aber auch mit dem Recht darf man nicht so pingelig sein.» Ich wünsche Ihnen einen guten Wochenstart Markus Somm

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