Somms Memo

Die Schweiz kehrt sich ab von dieser Welt. Erkenntnisse aus dem Sorgenbarometer

image 28. November 2022 um 11:00
Das Matterhorn. Inbegriff des schweizerischen Radikal-Realismus. An diesem Berg kommt niemand vorbei.
Das Matterhorn. Inbegriff des schweizerischen Radikal-Realismus. An diesem Berg kommt niemand vorbei.
Die Fakten: Das neueste CS-Sorgenbarometer zeigt: Die Schweizer sorgen sich um die Umwelt, die AHV, aber auch um ihre Identität. Warum das wichtig ist: Internationale Wirtschaft, EU, Zuwanderung und der Aufstieg Chinas werden kritischer gesehen. Ist die Globalisierung in der Schweiz am Ende? Seit 1976 lässt die Credit Suisse, eine Grossbank, die politische Stimmungslage in der Schweiz untersuchen, womit sie uns eine der längsten und kontinuierlichsten Datenreihen verschafft hat, was diese Fragestellung anbelangt:
  • Nie machten sich die Schweizer mehr Gedanken um die Umwelt als jetzt. Im sogenannten Sorgenbarometer kommt sie auf Rang 1. 39 Prozent nannten sie als erste Herausforderung
  • Sorge Nummer 2 ist die AHV. 37 Prozent sind dieser Auffassung
  • Erst auf den folgenden Rängen tauchen jene Probleme auf, die man als durchschnittlich informierter Zeitgenosse vielleicht als aktueller eingeschätzt hätte: «Energiefragen», Beziehung zur EU und Inflation
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Das mag erstaunen. Allerdings handelt es sich wie immer um eine Momentaufnahme, und die könnte bereits wieder veraltet sein: Das Forschungsinstitut gfs.bern, das dieses Sorgenbarometer für die Credit Suisse erstellt hat, nahm die entsprechenden Umfragen im Juli und August 2022 vor – je nach Standpunkt ist das eine Ewigkeit her, oder erst gestern geschehen. Zweitens gibt es auch Kuriositäten. Neben «Energiefragen» taucht der «Benzin- Erdölpreis» als gesonderte Sorge auf, was irritiert: Hängen die beiden Dinge nicht eng zusammen? Jedenfalls ergäbe eine Kombination der beiden den hohen Wert von 39 Prozent, was bedeutete, dass gleich viele Leute sich Sorgen um die Energie machten wie um die Umwelt. Wie dem auch sei, aufschlussreich bleiben die Veränderungen im Vergleich zu den Vorjahren:
  • Corona ist definitiv vorbei – in den Augen der Schweizer gilt sie nicht einmal mehr als erwähnenswert, wenn es um die 20 erstrangigen Sorgen geht (- 27 Prozent)
  • Arbeitslosigkeit, was ist das? Zum ersten Mal seit 1976 fällt diese Angst ausser Abschied und Traktanden

Stattdessen treten neue Sorgen auf, die man vorher kaum gekannt hatte:
  • 20 Prozent nennen den «Krieg in der Ukraine» – verständlicherweise eine neue Quelle von Unbehagen
  • 13 Prozent beklagen in diesem Zusammenhang aber auch den «Verlust der Neutralität». Eine so hohe Zahl wurde wohl noch selten gemessen
  • 10 Prozent beurteilen den «Aufstieg Chinas» skeptisch, ein ganz frisches Phänomen
  • Und verblüffend für das nach wie vor sicherste Land der Welt: 21 Prozent bereitet die «Versorgungssicherheit» Kummer – und zwar mit Blick auf Energie, Nahrungsmittel und Medikamente

Als stünde die Schweiz vor einem kommenden Krieg: Brauchen wir eine Anbauschlacht, einen zweiten Plan Wahlen? – Mit dem Plan Wahlen, benannt nach dessen Chef, Friedrich Traugott Wahlen, versuchte die Schweiz, ihre Ernährungsschwierigkeiten während des Zweiten Weltkrieges in den Griff zu bekommen. Wenn man das Sorgenbarometer studiert, ist das ohnehin der vorherrschende Eindruck, der sich einstellt: Die Schweizer und Schweizerinnen blicken etwas verzagt in die Zukunft. Realisten – wie sie in ihrer Mehrheit seit gut 700 Jahren sind – nehmen sie die Realität wieder wahr, als das was sie häufig ist: unveränderlich, lästig, aber vorhanden. Und manchmal bedrohlich, ohne dass man etwas dagegen tun könnte. So geben zwar nach wie vor 77 Prozent an, sie seien stolz, Schweizer zu sein (der Wert ging etwas zurück), gleichzeitig hat das Selbstbewusstsein gelitten.
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Wenn es um die eigene Identität geht, fühlen sich die Schweizer anscheinend umzingelt von Kräften, die sie kaum beherrschen:
  • Man glaubt, die «Abhängigkeit von der globalen Wirtschaft» untergrabe die Identität
  • Ebenso die «Zuwanderung» und die «internationale Öffnung»
  • Oder generell: «EU-Probleme»

Sind wir endgültig jene Isolationisten geworden, vor denen uns die Linken immer gewarnt haben? Natürlich ist «isolationistisch» ein Kampfbegriff, und er ist genauso in die Jahre gekommen wie die EU-Turbos, die ihn einst geprägt hatten. Dennoch ist der Befund ernst zu nehmen. Eine gewisse Globalisierungsmüdigkeit spricht aus diesen Werten. Man ist stolz auf das eigene Land – und weniger stolz auf die Probleme, die von aussen auf uns hereinprasseln. Die Verigelung des Landes zeigt sich auch, wenn man die Leute fragt, als was sie sich in erster Linie fühlen?
  • Als Schweizer und noch einmal als Schweizer: zwei Drittel
  • Erst ganz weit unten erscheinen so synthetische Identitäten wie Weltbürger (ca. 11 Prozent), Europäer (ca. 17 Prozent) oder Angehöriger der westlichen Wertegemeinschaft (ca. 12 Prozent)

Müssen wir uns also Sorgen machen? Ja und nein. Wenn sich das Krisenbewusstsein vielleicht an einem Ergebnis am deutlichsten äussert, dann sicher an dieser Neigung, sich ins eigene Igelfell zurückzuziehen:
  • Stacheln heraus
  • Lasst mich in Frieden

Niki Tiki in der Defensive.
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Niki Tiki. Der kleine Igel und Freund von Dominik Dachs (aus der gleichnamigen Geschichte) fürchtet vor allem eins: Von Zigeunern (pardon: Sinti oder Roma) gebraten und verspiesen zu werden.
Gleichzeitig zeigt sich, dass die Schweizer sich zwar auf ihr eigenes Land besinnen – und die Welt sich selber überlassen, aber dabei nicht unkritisch bleiben. Im Gegenteil, gefragt, worauf sie besonders stolz sind, nennen sie zum einen zwar die direkte Demokratie und die politische sowie wirtschaftliche Stabilität des Landes, zum andern verorten sie hier – in der politischen Praxis – auch besondere Gefährdungen:
  • wie die Polarisierung
  • oder den «Reformstau»

Wir haben es selber in der Hand, uns in einer zunehmend unwirtlichen Welt zu behaupten – so könnte man die Erkenntnisse dieses Sorgenbarometer zusammenfassen. Woran wir auch scheitern, es wäre hausgemacht. Oder um es mit Jeremias Gotthelf zu sagen, jenem Schweizer Schriftsteller, der den schweizerischen Radikal-Realismus zur literarischen Kunstform erhob: «Im Hause muss beginnen, was blühen soll im Vaterland». Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenstart Markus Somm

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